In den Institutionen, in denen es angeblich um
Wissen, Bildung und Forschung geht, passiert einem öfter folgendes:
Du kommst hinein und du hast eine schöne Theorie. Welcher Bescheid
wird dir erteilt? "Nichts da, das war bloß eine Hypothese!" Gut! Der
Mensch ist lernfähig. Das nächste Mal geht er hinein und verkündet
jedem, der es wissen will, er habe eine Hypothese (gr.) In
Wirklichkeit hat er natürlich immer noch seine Theorie. Soll man
daraus folgern, dass Hypothesen etwas mit Wissenschaft zu tun haben?
Was haben Hypothesen mit Wissenschaft zu tun?
Ein Mensch, der sagt, er hätte eine Hypothese, der
behauptet, etwas zu wissen. Auf Grund dessen, was er bereits über
seinen Gegenstand weiß, kommt er zu dem Ergebnis, dass dieser so
oder so beschaffen sein könnte. Wenn man sagt, ich habe eine
mögliche Erklärung, so ist zweierlei behauptet: 1. die angestellte
Vermutung hat Gründe, und zwar in dem, was man schon weiß, und 2.
diese Gründe sind mangelhaft, insofern sie noch verschiedene
Erklärungen zulassen. Will man also Gewissheit haben, kann man sich
mit einer Hypothese nicht zufrieden geben. Die moderne Wissenschaft
sieht das anders. Sie geht vom absoluten Gegensatz des Denkens zur
Objektivität als Selbstverständlichkeit aus, indem sie allem Wissen
seine prinzipielle Vorläufigkeit attestiert. Den darin enthaltenen
Widerspruch, den Maßstab der objektiven Erklärung anzuführen, um
seine Unerfüllbarkeit zu betonen, nehmen bürgerliche Wissenschaftler
als Beleg dafür, dass hypothetisches Denken in Ordnung geht: Wenn
man von der Realität nichts Sicheres sagen kann, muss man sie eben
näherungsweise deuten. So halten gewusste Nichterklärungen
reihenweise Einzug in die Welt der Wissenschaft, die durch die
öffentliche und vorweg ausgesprochene scheinbare Einschränkung, sie
seien keineswegs das letzte Wort über ihren Gegenstand, nicht nur
nichts an Gültigkeit einbüßen, sondern gerade umgekehrt respektabel
gemacht werden. Hypothesen wie "Lernen ist Verhaltensänderung"
werden zu gewichtigen Befunden, denen 5 gegenläufige mit demselben
erkenntnistheoretischen Recht gegenüberstehen, also dadurch, dass
sie sich zusammen mit ihrer Selbstbezweiflung präsentieren;
vielleicht ist Lernen ja auch etwas ganz anderes, aber wer kann das
mit Sicherheit sagen? Weit davon entfernt, unermüdlich Hypothesen
aufzustellen, um sie dem Rest der Forschergemeinde zwecks
alsbaldiger Widerlegung zur Verfügung zu stellen, damit eine absurde
Vorstellung(!) das Wissen zunimmt oder zumindest das Unwissen ab,
zeigt sich die bürgerliche Geisteswelt vielmehr als solche, in der
man des hypothetischen Arguments berechtigte Ansätze vorgestellt und
zugleich unangreifbar gemacht werden. Dass Wissenschaft eine
Sammlung von derartigen Dogmen sein muss, hat sich längst bis in das
letzte Proseminar herumgesprochen, und Beiträge, die ihren
selbstzweiflerischen Charakter nicht herausstreichen, müssen im
Namen der Vorläufigkeit allen Wissens entschieden zurückgewiesen
werden. Die Wissenschaftstheorie bezieht sich auf dieses Treiben als
Normalform wissenschaftlichen Denkens, wenn sie behauptet, "der
Fortschritt der Wissenschaften bestehe im Aufstellen von immer neuen
Hypothesen", und tritt den philosophischen Beweis dafür an, dass
alle Theorie bloß hypothetisch ist.
Alles Wissen ist hypothetisch
Die theoretische Befassung mit der Welt kann sehr
unterschiedlich ausfallen: Je nachdem, wie das Subjekt sich auf
seine Gegenstände bezieht, muss man seine Gedanken beurteilen. Sie
sind Erkenntnis, Spekulation oder Phantasie. Die Wissenschaft
entdeckt in den verschiedenen Möglichkeiten, sich mit der Welt zu
befassen, nicht unterschiedliche Leistungen des Geistes, sondern ein
Problem des Denkens überhaupt. Weil es sich in jedem Fall dabei um
Gedanken handelt, soll man es den Gedanken nicht ansehen können, ob
sie irgend etwas erklären oder Produkt der Phantasie sind. Sie
behauptet, jede Tätigkeit beanspruche, Wissen zu sein, und wirft ihr
von dieser Unterstellung aus vor, dass sie auch keines sein könnte.
Eine sehr interessierte Behauptung, denn der
Wissenschaftstheoretiker weiß ja um den Unterschied zwischen einer
Erklärung und einer Erfindung, wenn er sie als verschiedene
Tätigkeiten aufzählt und behauptet zugleich, an den Gedanken keinen
Unterschied entdecken zu können. Jedes Urteil, das einer über einen
Gegenstand fällt, unterliegt damit dem sehr prinzipiellen Zweifel,
ob es denn auch zutreffe. Man kann nicht wissen, ob der Gedanke
richtig ist, weil als Charakteristikum eines jeden Gedankens
behauptet ist, dass er möglicherweise falsch ist. Irrtümer sind
nicht mehr Fehler im Denken, bzw. fehlerhafte Gedanken, sondern eine
conditio sine qua non des Denkens überhaupt. Auf diese Weise
entwirft die Wissenschaftstheorie das Bild einer Wissenschaft, in
der ständig herumgetüftelt wird und man niemals – und das weiß der
Herr Wissenschafts-theoretiker nun wieder ganz genau – sicher sein
kann, irgendeine gültige Erkenntnis zutage gefördert zu haben. "Der
Gang der Wissenschaft besteht im Probieren, Irrtum und
Weiterprobieren." (Popper) Verlangt wird also vom Subjekt, sich von
vornherein zu seinem Denken hypothetisch zu stellen. Es soll jedem
Gedanken skeptisch gegenüberstehen, weil es einen möglichen Irrtum
nicht ausschließen kann. Und dieser grundsätzliche Mangel am Denken, dass es nie wissen kann, ob es richtig gedacht hat, soll
ausgerechnet daran liegen, dass es das Subjekt ist, das denkt. Weil
Denken menschlich ist, ist es nicht objektiv, ist der Vorwurf an
jedes Urteil über einen Gegenstand. Ein Vorwurf, der ebenso grundlos
ist wie die damit begründete Aufforderung zum Zweifel: Warum soll es
denn ein Mangel sein, dass das Denken eine Tätigkeit eines Subjekts
ist? Wer sollte es ihm denn abnehmen? Das ist schon ein billiger
Trick: Weil das Subjekt denkt, ist der Inhalt der Gedanken bloß
subjektiv. Mit der "Kritik", dass die Erkenntnis "ein Erzeugnis des
Menschen" und damit "alle Theorie das Resultat von Einfällen" sei,
trennt die Wissenschaft das Denken von der Objektivität und wirft
nach vollbrachter Tat die Frage auf, wie beide wieder zusammenkommen
können. Sie suchen nach einem Kriterium, das die unabhängig von der
Befassung mit realen Objekten zustande gebrachten Gedanken doch als
objektive ausweisen könnte und findet es in der Vorstellung des
unbegriffenen Gegenstandes selbst.
Deswegen: "Empirische Kontrolle"
Die Wissenschaftstheorie will die von ihr
ausgesprochene Skepsis gegen mögliche Gewissheit dennoch keinesfalls
als Aufforderung missverstanden wissen, das Theorietreiben bleiben
zu lassen, im Gegenteil: Die Wissenschaft fordert jetzt die Empirie
als Kriterium der Theorie, die zwar nicht die Richtigkeit, aber die
Berechtigung der Gedanken unter Beweis stellen soll. So ergibt sich
der Widerspruch, dass mit der "Realität" gerade das, wovon man
vorgab, nichts wissen zu können, als Überprüfungsinstanz eingeführt
wird. Wissenschaftsphilosophen behaupten allen Ernstes, der
unbegriffene Gegenstand selbst müsse, wenn man ihn mit den ohne
seine Berücksichtigung verfertigten Gedanken über ihn vergleiche,
für die Stimmigkeit dieser Theorien bürgen: "Es ist unmöglich, durch
reines Nachdenken und ohne eine empirische Kontrolle (mittels
Beobachtungen) einen Aufschluß über die Beschaffenheit und über die
Gesetze der wirklichen Welt zu gewinnen." (Stegmüller) Praktizieren
läßt sich diese theoretische Absurdität, das Denken an der ihm
völlig inkommensurablen "Realität" messen zu wollen, nicht. Auch
dann nicht, wenn man in Rechnung stellt, was hier mit "Theorie" und
"Realität" oder "Erfahrung" gemeint ist. Erstere löst der
Wissenschaftstheoretiker auf in Sätze, in denen nicht geurteilt,
sondern eine beliebige Einzelheit an einer Sache ausgedrückt wird,
wie z.B. bei den berühmten weißen Schwänen; Wissenschaft ist hier
Nachschauen, ob es sich so verhält. Der Wissenschaftstheoretiker
stellt sich das folgendermaßen vor: dass Schwäne weiß sind, hat man
nicht irgendwann einmal festgestellt, sondern verdankt sich einem
"Einfall" "Theorien sind Einfälle, Entdeckungen, zu denen kein
rationaler Weg von den gemachten Beobachtungen führt." (Stegmüller)
Man formuliert eine Hypothese "Könnte sein, dass Schwäne weiß sind"
und kontrolliert sodann die "Idee" an der Realität, und siehe da,
man findet tatsächlich einen weißen Schwan. Die Realität stellt in
dieser Vorstellung von Wissenschaft nicht den Ausgangspunkt des
Nachdenkens dar, sondern "kontrolliert" die Theorie freilich auf
eine recht eigentümliche Weise: die "Empirie", die der
Wissenschaftler zum Zwecke der Überprüfung seiner theoretischen
Annahmen beobachten will, ist von vornherein gar nichts anderes als
die Ansammlung von Instanzen der Theorie. Deswegen wird per
"empirischer Kontrolle" auch gar nicht nach der Stimmigkeit des
inhaltlichen Urteils über die Realität gefragt, sondern danach
geforscht, ob es das, was die Hypothese zu ihrem empirischen
Indikator erklärt, in der Realität gibt oder nicht. Die schiere
Existenz eines Sachverhalts, mehr ist sie nicht, die "solide
empirische Grundlage" einer Überprüfung von Theorien. "Scheitern"
kann deswegen keine noch so verrückte Mutmaßung über den Charakter
dieser Sachverhalte, einfach, weil dies zur Überprüfung auch gar
nicht ansteht. (Und der Schein, hier ginge es ums "Nachprüfen",
kommt nur deshalb zustande weil Popper und seine philosophischen
Mitstreiter die Bemühungen ihrer Kollegen von den einzelnen
wissenschaftlichen Disziplinen mit einem Rätselraten über so Dinge
wie "welche Farbe hat ein Schwan?" verwechseln. Die Theorie "Alle
Raben sind weiß" ließe sich in der Tat per "empirischer Kontrolle"
widerlegen, wenn ein Wissenschaftler solche Theorien aufstellen
würde. Nur tut das eben niemand.); "verifiziert" wird sie freilich
auch nicht; denn Theorien gelten in den Kreisen dieser
Wissenschaftstheoretiker als "All-Aussagen" also nicht als Urteile
über den Schwan, sondern über alle Schwäne zu allen Zeiten und
Orten. Eine Unterscheidung, die vor allem den einen
wissenschaftstheoretischen Vorzug hat: solche "All-Aussagen" lassen
sich per definitionem nicht "endgültig bestätigen", weil es ja
schlechterdings unmöglich ist, alle empirischen Instanzen der kühnen
Mutmaßung "Alle Schwäne sind weiß" zu überprüfen. So ist die Theorie
eben "vorläufig bestätigt", wenn sie aus dem TÜV der Empirie kommt,
bleibt eben, was sie sein soll: eine Hypothese; "falsifiziert" soll
sie freilich werden können, die Hypothese: ein schwarzer Schwan und
die ganze Schwanentheorie wäre widerlegt. Bloß: jahrzehntelange
"empirische Kontrollen" haben es nicht zustande gebracht, auch nur
einer geisteswissenschaftlichen Theorie so den Garaus zu machen, dass sie aus dem Kanon respektabler möglicher Lehrmeinungen
ausgeschieden wäre. Das liegt daran, dass die einschlägigen
Wissenschaftstheoretiker ihr Desinteresse, eine verkehrte
"Hypothese" widerlegen zu wollen, ausgebaut haben zu einem ganzen
Instrumentarium an Überlebensstrategien von Theorien als Hypothesen:
da lässt sich die "Beobachtung" mit haargenau den gleichen
Argumenten aus Prinzip bezweifeln wie die Theorie, die sie
"überprüft"; da wird der hypothetische Charakter der "All-Aussage"
zum positiven Bestandteil der theoretischen Aussage gemacht, so dass
dann Wahrscheinlichkeitsaussagen, middle range theories u.v.a.m. die
Welt der Wissenschaft bevölkern. Resultat der "empirischen
Kontrolle" ist also die Hypothese, inhaltlich ungeschoren und in
ihrer hypothetischen Form enorm bestätigt. Unter dem Schein einer
"Überprüfung an der Empirie" wird dem Geist ein Reich der Freiheit
zugewiesen, in dem er so viele wie verrückte Theorien aufstellen
darf, da der Anspruch auf Gültigkeit im prinzipiellen Zweifel gut
aufgehoben ist. "Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind
selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit
wertlos. Das heißt: Wir können uns stets Gewissheit verschaffen,
indem wir irgendwelche Bestandteile unserer Überzeugung durch
Dogmatisierung gegen jede mögliche Kritik immunisieren und sie damit
gegen das Risiko des Scheiterns absichern." (Albert) So kommt
umgekehrt jeder Gedanke, der darauf beharrt, er liege richtig, von
vornherein in den Verruf der Hybris. Wer diesen Vorwurf erhebt,
macht sich sehr klein, verlangt dafür aber auch von allen anderen,
diese Pose nachzuahmen; und das im Namen des Wissens, das ganz gewiss nur hypothetisch zu haben ist. "Das ist doch nur eine
Hypothese!" wird so zum wuchtigen Argument, dem niemand
Sachfremdheit vorrechnet. Es ist Usus geworden an den Universitäten
und anderswo, mit diesem Universaleinwand, zu dessen Beherrschung
keiner Wissenschaftstheorie studiert zu haben braucht, um ungeliebte
und nicht geteilte Gedanken zurückzuweisen. Und in den seltenen
Fällen, wo die angemahnte Moral des Relativierens nicht beherzigt
wird, kommt regelmäßig der Vorwurf auf, das sei Gewalt.
Die Selbstgerechtigkeit des Zweifels als Gebot
der Toleranz
Das Argument der Hypothese leistet einiges: Die
Forderung nach Relativierung ist der Angriff auf jede Aussage und
bewerkstelligt gerade damit eine Selbstbezichtigung, die den Angriff
auf die eigene Theorie verbietet. Der grundsätzliche Zweifel an
richtigen Resultaten des Denkens, dient ja nicht dazu, die eigene
Theorie zu verwerfen, sondern ihr eine Berechtigung zu verschaffen:
Sie ist genauso möglich wie jede andere. Unter dem Mantel der
Wissenschaftlichkeit versteckt sich die Benimmregel für die
Geisteswissenschaft. Jeder Denker hat sich so aufzuführen, dass er
die prinzipielle Vorläufigkeit und damit Harmlosigkeit seiner
Urteile durch den Hinweis auf seine Subjektivität unterstreicht. Das
Denken wird dazu aufgefordert, sich ständig als bloße Vermutung über
die Realität zu betrachten. Ausgerechnet der, der für die Gültigkeit
seiner Argumente nichts weiter beansprucht als die Argumentation
selbst, wird der Gewalt bezichtigt. Der Hypothesengedanke ist seiner
Natur nach nichts weiter als der Schein der Begründung für das
moralische Gebot der Toleranz in der Wissenschaft. Dieses aus der
Sphäre der Politik bekannte Gebot demokratischer Machtausübung, das
konfligierenden Interessen freiwillige Selbst-beschränkung abfordert,
ist auch die angemessene Verfahrensweise einer demokratischen
Wissenschaft, welche mit ihrer Unterordnung unter den von den
Zuständigen bewerkstelligten praktischen Lauf der Welt sehr
zufrieden ist. Wer diese Unterordnung unter die "Kontrolle durch die
Empirie" schon rein formell nicht betreibt, dessen Argumente werden
als Missbrauch der Wissenschaft ins Reich der politischen Ideologie
verwiesen. Jemand, der diese Tour aber beherzigt, hat seine
Freiheiten im Kommentar, den er dem Weltgeschehen unterlegt. Darin,
in demokratischer Wissenschaft, ist die Nutzanwendung der Hypothese
sehr unhypothetisch.
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