Sofern in der bürgerlichen Gesellschaft einmal die
Rede von der Dummheit ist, dann geht es gegen die Individuen, an
denen sie einer entdeckt haben will. Sie gilt als Defekt, den man
anderen, aber auch sich selbst bescheinigen kann. Von ihrer Schläue
überzeugte Zeitgenossen halten sich viel darauf zugute, dass sie
genau abzuwägen wissen, unter welchen Umständen sie sich und anderen
ihre Diagnose offenbaren. Das hat etwas mit der Endgültigkeit der
Diagnose zu tun. Wen man der Dummheit zeiht, den hat man
abgeschrieben: Er ist untauglich, sei es für seine eigenen Anliegen,
sei es für Dienste, die andere von ihm erwarten. Die
Auseinandersetzung mit so einem Menschen lohnt nicht,
Besserungsversuche durch Kritik bzw. Hilfe müssen scheitern – und
zwar wegen des festgestellten Defekts. Ob als resignierende
Selbstbe-zichtigung oder als Vorwurf ausgesprochen – der Befund
„Dummheit“ ist ein sehr radikaler. Er verdankt sich der Auffassung,
dass es den Dummen an einer Fähigkeit mangeln würde, über die die
Gescheiten verfügen. Die Fähigkeit heißt Intelligenz, und die
Frage nach ihrem Vorhandensein oder Fehlen ist elitär.
I.
Daraus, dass sich Kinder wie
Erwachsene des öfteren vertun, wenn sie sich Gedanken über etwas
machen und diese mitteilen, geht erst einmal gar nicht hervor, dass
ihnen etwas fehlt, was denen eignet, die ihre Fehler bemerkt haben.
Die Kritik beruht vielmehr darauf, dass sie derselben
Tätigkeit entspringt wie die kritisierte Geistesleistung. Nur wenn
sich gar nicht erst die Mühe gemacht wird, den Irrtum verkehrter
Gedanken auszumachen, tritt an die Stelle des Versuchs, sie richtig
zu stellen und als Verstoß gegen das Denken, das sie nun einmal
sind, festzuhalten, der gemeine und inhaltslose Befund, ihr Urheber
sei des Denkens nicht mächtig. Das Versagen beim Begreifen einer
Sache wird dann zur Folge einer Eigenschaft, die ihre Wirkung
getan hat und einen guten Grund dafür hergibt, die mit dieser
Eigenschaft geschlagenen Behinderten sachgerecht zu verachten.
Dieses Ergebnis, zu dem sich Leute
auf allen Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie immer wieder
hinarbeiten, zeugt nicht nur davon, dass die Dummheit eine weit
verbreitete Sache ist. Die bescheuerte Sortierung, die da an Herren
wie Knechten gleichermaßen vorgenommen wird, beweist auch die
gänzlich un-theoretische Herkunft des Dummheitsbefunds.
Offenbar fühlen sich ziemlich viele Leute dazu berufen, zwischen
sich und anderen einen Vergleich vorzunehmen und diesen in Form
eines Intelligenztests zu veranstalten. Dabei geht es ihnen, wie den
psychologischen Erfindern gleichnamiger Experimente, keineswegs
darum, zu erfahren, was Intelligenz ist – sondern jenseits davon um
die spannende Frage, wem sie zuzugestehen sei. Interessant scheint
den Entdeckungsreisenden in Sachen „Dummheit“ weniger der Unsinn zu
sein, der um sie herum so vertreten wird; sie schauen lieber auf die
Voraussetzungen, die andere nun einmal mitbringen müssen, um
ihnen gewachsen zu sein oder es ihnen recht zu machen. Und die
Voraussetzungen dafür verwechseln sie sehr selbstbewusst mit
dem Vorhandensein von Geist – von einem „Gut“, über das wirklich
jedermann verfügt, wenngleich ein ziemlich unterschiedlicher
Gebrauch davon gemacht zu werden pflegt.
II.
Der Maßstab, welcher auf dem Markt
der Meinungen und Ideen so zielstrebig angelegt wird, um jedermann
vom Kanzler bis zum Arbeitskollegen in eine Skala des geistigen
Leistungs¬vermögens einzuordnen, sichtet die Tauglichkeit.
Die Vertreter von banalem wie höherem Ideengut werden daraufhin
begutachtet, ob ihre Auffassungen geeignet sind für die Erledigung
der ihnen zufallenden Aufgaben und das Zurechtkommen mit ihnen.
Geprüft werden nicht Gedanken, sondern ihr Verhältnis zum Erfolg,
was gar nicht so einfach ist. Zur Feststellung, ob und wie sich ein
Gedanke „im Leben“ oder „in der Praxis“ bewährt, muß man ihn nämlich
schon zur Kenntnis genommen und begriffen haben. Zudem ist die
vernünftige Antwort auf die Frage nach der Brauchbarkeit einer Idee
nie die Folge eines Vergleichs von Theorie und Praxis; vergleichen
lassen sich allemal nur verschiedene Auffassungen, so dass genau
genommen in der Billigung oder Ablehnung von Behauptungen aller Art
nicht „die Praxis“ zitiert wird, sondern die Erklärung von ihr, die
man sich selbst zurechtgelegt hat.
Wenn es nun üblich geworden ist,
diesen Vergleich so misszuverstehen, dass sich Dummheit und Einsicht
danach scheiden, wie sie zur Welt und den in ihr üblichen Umtrieben
passen, dann verwechseln einige Leute – nebenbei nicht wenige
– das Denken und die Intelligenz mit Anpassung. Wenn sie
andere mit der Aufforderung „Sei doch vernünftig!“ beglücken, so
raten sie von der „Dummheit“ ab, einem Gedanken zu folgen, der, in
die Tat umgesetzt, im bürgerlichen Getriebe Schaden nach sich zieht.
Selbiges Verfahren schimpft sich stolz „Realismus“, und seine
Verehrer berufen sich auf die „Realität“. Leider liegt mit solcher
Auffassung von Intelligenz bzw. „Dummheit“ nicht nur eine
Verwechslung vor, die auch schon Eingang in die wissenschaftlichen
Bibliotheken gefunden hat. (Dass Denken ein – noch dazu schlechter –
Instinktersatz und eine Anpassungsleistung sei, behaupten trotz
Eiffelturm, Mercedes-Diesel und Mondraketen ganze Legionen von
Verhaltens- und anderen Forschern.) Ein wenig will dieser Irrtum
auch als Imperativ gültig werden, und es ist nicht zu bestreiten,
dass sich erhebliche missionarische Erfolge eingestellt haben.
III.
Wo Einsichten daran gemessen
werden, ob sie die Anstrengung ihres Urhebers verraten, sich durch
Anpassung an die „Realitäten“ zu bewähren, gilt berechnendes Denken
als Klugheit. Umgekehrt wird Dummheit nicht etwa als
systematischer Verstoß gegen korrektes Denken aufgefasst,
sondern immer dann festgestellt, wenn ein Gedanke hinten und vorn
keine Berechnung ausdrückt. „Gute Ideen“ zeichnen sich dadurch aus,
dass sie von ihrem Nutzen künden. Entweder waren sie „erfolgreich“ –
dann wird wie im Falle theoretischer Leistungen auf
naturwissenschaftlichem Gebiet ihre und des Denkers Bedeutung
selbst von Leuten gewürdigt, die von ihrem Inhalt keine Ahnung
haben. Nachträglich wird so getan, als wäre das Spechten auf ihre
Anwendung dasselbe wie die Erkenntnis, die sie darstellen. Oder sie
präsentieren sich als die Entdeckung eines großartigen
Erfolgsrezeptes – dann erklären sie wie im Falle der
Geisteswissenschaften zwar nicht die Sache, von der sie handeln;
dafür aber loben sie ihren Gegenstand als funktional und
schreiben ihm lauter Leistungen zu, die er zur Lösung von
„Problemen“ beisteuert, welche bei seiner Abwesenheit die Menschheit
behelligen würden. Insofern steht bei der zweiten Abteilung des
modernen Wissenschaftsbetriebes „der Mensch“ im Mittelpunkt,
weil seinet- und seiner guten wie schlechten Eigenschaften wegen vom
Geld über die Geschichte bis zur „Gesellschaft“ und ihrem
Gemeinwesen alles so ist, wie es ist.
Richtige wie verkehrte Gedanken
haben unter dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit das gleiche Recht.
Ob einer Naturgesetze entdeckt und mit seinem Wissen ein Mittel
liefert, um die Natur nützlich zu machen – oder ob einer der
„Gesellschaft“ ihre Nützlichkeit für Gott und die Welt nachsagt und
mit erfundenen „Sachzwängen“ seine Umwelt Mores lehrt, in jedem Fall
offenbart sich dem bürgerlichen Verstand die Leistung des Geistes,
auf die er es abgesehen hat. Er ist scharf auf Botschaften, die ihm
die Gewissheit davon vermitteln, sich nur mit einsichtigen
Notwendigkeiten herumschlagen zu müssen. Daran gewöhnt, von
jedem Gedanken den Dienst zu fordern, er solle sich hilfreich
erweisen beim Zurechtkommen mit dem Rest der Welt, erwarten
sich erwachsene Menschen vom Denken die Produktion von Vorurteilen.
Wer darauf besteht, dass es einem allemal zum Vorteil gereichen
müsse, sich in einer Sache auszukennen, will über jede Sache
erfahren, dass und inwiefern sie für ihn und seinesgleichen
brauchbar ist.
Dieses Verfahren, das manchem zu
dem Glauben verhilft, die NATO wäre wegen seiner guten Beziehung zu
Quelle oder Neckermann erfunden worden, ist Idealismus. Seine
zahlreichen Vertreter unterschreiben gelegentlich durchaus den
Spruch: „Wissen ist Macht“. Sooft ihnen allerdings ein
Wissens-brocken über den Weg läuft, dem sie – Wahrheit oder nicht –
nichts ansehen, womit er ihnen brauchbar sein könnte, werden sie
ganz schnell wieder „Realisten“. Als solche sind sie Feinde des
Denkens, was sie mit einem Gedanken aus Goethes „Faust“, gebildet,
wissen lassen: „Grau, mein Freund, ist alle Theorie!“
IV.
Die Produktivkraft, welche
Dummheiten hervorbringt, ist – psychologisch betrachtet – eine sehr
kindische Einstellung. Diese gehorcht dem Muster des praktischen
Gefühls, mit dem der mit Wissen noch nicht übermäßig versorgte
Wille der Kleinen seiner Umgebung auf den Wecker fällt. Die
elementare Frage, welche in jungen Jahren so dominiert und ganz spät
wieder die Oberhand behält, lautet schlicht und ergreifend: „Passt
mir das?“ oder „Ist mir wohl?“ Sie beruht auf einem Vergleich der
Empfindungen, Gefühle und Bedürfnisse mit den Umständen, in die man
sich versetzt sieht – und die Antwort lautet: „angenehm/unangenehm“.
Zwischen den bescheuerten Phasen des bürger-lichen Lebens spielt bei
halbwegs brauchbaren Leuten diese Sorte Selbstsuche und -findung
keine so große Rolle, obgleich man zugeben muss, dass sie in den
psychologischen Betreuungsveranstaltungen zu einigen Ehren gelangt.
Die Leute haben jedenfalls Wichtigeres zu tun als immerzu ihre Laune
zu ermitteln, die sie ja sowieso haben. Allerdings sind bürgerliche
Gemüter schwer damit beschäftigt, ihr Denken als Fortsetzung des
praktischen Gefühls mit anderen Mitteln auszugestalten.
Ständig ist das berechnende Denken
damit befasst, ein paar Weisheiten auf die Beine zu stellen, die das
Bemühen um Anpassung in einer unwirtlichen „Gesellschaft“ als
lohnend erscheinen lassen. Und zwar nicht nur bei der Minderheit,
die wegen ihrer Vorteile wenigstens Gründe hat, den Kapitalismus mit
allem „zwar und aber“ als sinnvolle Einrichtung zu preisen. Auch und
gerade minder bemittelte Zeitgenossen sind um den theoretischen
Nachweis nicht verlegen, es einigermaßen gut getroffen zu haben. Sie
nehmen sich sowohl die idealistischen Unwahrheiten über sämtliche
Einrichtungen des bürgerlichen Zirkus zu Herzen als auch die
realistischen Lügen über die „Notwendigkeiten“, die mal nicht zu
ändern sind. Als wollten sie sich nicht nachsagen lassen, etwas auf
eigene Kosten verkehrt zu machen, wenn sie mitmachen, kurbeln sie
ihren Geist an, um sich abwechselnd zufrieden und enttäuscht zu
geben. Herauskommen tun ein wenig viele Dummheiten, die offenbar
nötig sind, um immer wieder die angenehme Bilanz zu ziehen, man
kenne sich erstens aus und sei darin zweitens Herr der Lage. Und für
diese vermittels des Denkens produzierte Zufriedenheit mit sich,
die stets einhergeht mit der Unzufriedenheit mit anderen,
liefert die Tradition des Denkens schier unerschöpfliche
Hilfsmittel.
V.
Um Tiefes, garantiert Gewichtiges
zu den Weltenläufen zu bemerken, bedient sich der demokratische
Geist seiner eigenen Tradition. Die geht freilich weit zurück. Das
hat offenbar damit zu tun, dass der „Wert“, nach dem bei
jedem Gedanken gefahndet wird, vom Wissen, das er enthält,
getrennt ermittelt wird. Wo sich die Berechnung beim Denken weder um
Wahrheit etwas schert noch einen materiellen Nutzen anvisiert, dafür
umso mehr auf einen moralischen Ertrag geht, sind die
ältesten Überlegungen zugleich die bewährtesten. Bei den
Naturwissenschaften, wo es um Wissen geht, lässt sich – allein durch
das Nachzählen der Zeilen, die Kenntnisse aus antiken Quellen in
heutigen Lehrbüchern anführen – ermessen, was „die Alten“ konnten.
Ganz anders sehen das die Denker des Menschlich-Allzumenschlichen.
Für ihre Lehren kann ein falscher Gemeinplatz gar nicht alt genug
sein, um ihn zu wiederholen – und sich als Bewahrer und
Prediger des Guten, Alten, Schönen zu demonstrieren. Wer hat denn
jemals vor oder nach dem Spruch vom „zoon politikon“ behauptet, dass
der Mensch ein Isolani sei? Höchstens doch der andere mit seiner
Staatsableitung aus „lupus“! Und der wird nicht minder hochgehalten.
Anders gesagt: auch Ideen sind
umso erfolgreicher, je brauchbarer sie von den wissensfeindlichen
Weltanschauungspriestern eingeschätzt werden. Senten-zen, die einmal
die Notwendigkeit von Sklaverei und römischen Kriegszügen
„begründet“ haben, tun es auch heute noch – obgleich sie auf etwas
gänzlich anderes gemünzt waren. Dass sie für manche gebildeten
Menschen als Antwort auf die Frage „Warum muss das so sein?“ heute
genauso gut taugen, bezeugt nur die Falschheit des Gedankens sowie
das Bedürfnis nach guten „Gründen“ für jeden Mist. Platons
analphabetisch inspirierte Dialoge und die Hl. Schrift sind so im
20. Jahrhundert anerkannte Renner und keineswegs nur von
philologischem Interesse. Schöner kann man Skepsis und Anstand,
Herrschaft und Dummheit wohl auch nicht befürworten. Allerdings auch
nicht dümmer.
Andererseits wissen moderne
Geister auch Abstriche von der Tradition zu machen. Bei Marx wissen
sie genau, dass er veraltet ist obwohl der Gegenstand von dessen
Theorie fröhlich weiterexistiert und das Kapital jede Menge Leute um
die Ecke bringt. In solchen Belangen kommt ein anderer unfeiner Zug
moderner Bescheidwisserei zur Geltung. Wenn die staatlich
berufenen Gelehrten zwischen brauchbar und unbrauchbar
unterscheiden, weil sie die Wahrheit der Kritik nicht „verstehen“,
so geht das in Ordnung. Ihre Urteilskraft ist schließlich mit ihrer
bezahlten Nützlichkeit verbrieft, so dass eine gehörige Portion
Wissenschaftsgläubigkeit ansteht. Wer etwas sagt, sagt
tausendmal mehr, als was er sagt...
VI.
Was alle sagen, wenn sie sich
einen Reim auf die Demokratie machen, in der jedermann seine Rechte
hat und doch mancher vom Kapital nichts, wird deswegen noch lange
nicht unterbewertet. Man darf und soll sogar ein Leben lang frei
meinen, Gleichheit sei ein Grundwert; man darf sogar zweifeln, ob
der schon „verwirklicht“ sei. Wenn nicht, so macht das auch nichts.
Denn was die Demokratie nicht erledigt, das schafft spätestens der
Sensenmann, der bei allen anklopft, „beim Kaiser und beim
Bettelmann“. Bis dahin gilt entweder der Aufruf zur „Solidarität“
oder die Frage des Realisten: „Lebt wohl jemand auf der Welt, der
nicht auf seinen Vorteil zielt?“ Müßig darauf hinzuweisen, dass die
Wahrheit dieser Auffassung zum Klassenkampf führte. Auch das Lob der
Erfahrung, der schlechten zumal, ist ja eine Dummheit, aus deren
Schaden auch noch keiner klug geworden ist. Opfer und Geduld sind
eine Sache – eine ganz andere ist es, wenn es am Biertisch heißt,
Rom wäre nicht an einem Tag erbaut worden. Dass „der Schein trügt“,
ist wiederum keine Garantie dafür, dass die Interpreten dieses Lieds
sich nicht mehr täuschen lassen. Sie tun nur so und distanzieren
sich von Vorurteilen nur, um sie zu bestätigen – nie würden sie
„alles über einen Kamm scheren“, und es gibt auch anständige Russen.
Der „Generationenvertrag“ ist auch schon immer in Gefahr gewesen.
Die Rechnung: „Der Jüngling kämpft, damit der Greis genieße“ braucht
nämlich immer einen Staat, der aufpasst, dass die Jugend auch Tugend
hat. Andererseits hat die Sozialisationstheorie bewiesen, woher der
Jugend ihre schlechten Manieren kommen: „Wie die Alten sungen, so
zwitschern auch die Jungen“. Mit den anderen Menschen kennt man sich
aus zum Ende des Jahrtausends: „Undank ist der Welten Lohn“. Und als
liberale Vorrede für ein dickes „aber“, das garantiert die Falschen
für die eigenen Sorgen verantwortlich macht, muß man sagen: „Jedem
Tierchen sein Plaisirchen“. Insgesamt will die Welt betrogen sein,
die meisten nehmen sich zuviel heraus, recht Gut gedeiht wie blöd,
und jedes Ding hat zwei Seiten.
Die zwei Seiten der volkstümlichen
Dummheit liegen darin, dass sie von einigen ohne Schaden geglaubt
werden kann, von den meisten aber nur als Zusatzveranstaltung zu
ihren praktischen Sorgen. So wollen letztere Bescheid wissen über
ihre Lage; eine Lage, in der Arbeit keineswegs unnütze Gedanken
vertreibt sondern fürs Durchhalten nützliche Lügen erforderlich
macht. Leute, die „das Leben? – ein Kampf!“ deklamieren, befinden
sich im übrigen nicht im Kampf mit ihren Feinden, sondern machen
unter Aufbietung aller Kräfte mit. Sie sind auch imstande, dauernd
eine andere Dummheit vorher schon durch ihr eigenes Beispiel zu
widerlegen: „Hinterher weiß man's besser.“
VII.
Der Spaß mit den in
sprichwörtliche Lebensweisheiten gegossenen Einstellungen, die ein
Bewusstsein von der eigenen Lage ersetzen, ist leider keiner. Daran,
dass sich sämtliche freien Meinungen bezüglich Recht und Unrecht,
Verdienst und Verdienst, Reichtum und Gesundheit, Konkurrenz und
Hierarchie der Berufe, Staat und Familie auf den nationalen Schatz
geflügelter Worte aus vergangenen Zeiten zurückführen lassen,
beweist sich nur eines: Dummheit ist nicht die Alternative
zur Intelligenz, sondern deren befangener Einsatz. Sie ist
die theoretische Manier, die auf einem lastenden Zwänge, die eigene
Erfolglosigkeit, das Opfer, das man spürt, in eine allgemeine
Notwendigkeit zu übersetzen. Dem Inhalt nach gehören die Resultate
dieses Denkens in die Sphäre der Moral, ihrem Zwecke nach sind sie
Mittel des Sich-Fügens. Unter die Leute gebracht wird dieser Geist
heute viel effizienter, als es Eltern und Großeltern früher
vermochten. Die BILD-Zeitung und die anderen, ihr durchaus
kongenialen, Medien sorgen bei jedem Verbrechen, bei jeder
Steuererhöhung und bei jedem Staatsbesuch dafür, dass der Anlass mit
den entsprechenden Maßstäben begutachtet wird. Sie werfen den
Gerechtigkeitswahn für die Opfer des Rechts in die Zirkulation, und
dabei setzen sie die Maßstäbe für Kritik. An die Stelle von
Urteilen über die Werke und Anliegen von Unternehmern, Staat und
Bundeswehr, aber auch von Müttern, Lehrern und Sportlern, tritt der
Imperativ an sämtliche Abteilungen des bürgerlichen
Gegeneinander, sie möchten ihre Sache gut machen. Einwände sind
nicht nur erlaubt, sondern geboten, die das Recht aller auf
Pflichterfüllung aller anderen anmelden. Die Politiker sollen sich
auf starke Führung verstehen, die Bundeswehr und ihr Personal auf
mehr Leistung auf ihrem Feld; natürlich gilt die Verpflichtung auf
den nun einmal feststehenden Beitrag zum nationalen
Gemeinschaftswerk auch für die unteren Chargen, und längst loben
sich wahlkämpfende Politiker selbst dafür, am schonungslosesten
Opfer anzusagen und durchzusetzen. Verfangen freilich kann diese Art
der öffentlichen Erziehung nur bei Untertanen, die mit der „Macht
der Gewohnheit“ (auch ein schöner Gedanke) darauf bestehen, dass
ihre Führer und Nutznießer ihren gesellschaftlichen Beruf mit
ebensoviel „Verantwortung“ und Eifer versehen, wie sie selbst an
Anstand und Leistung aufbieten.
So ist schließlich nicht zu
übersehen, dass der rationale Vorwurf der Dummheit sich
einigermaßen von der elitären Unzurechnungsfähigkeitserklärung
unter-scheidet. Er ist eben nichts weiter als eine Kritik an der
Unsitte, sich die eigene Lage mit falschen Gedanken so
zurechtzuinterpretieren, dass man fügsame Manövriermasse von Staat
und Kapital bleibt.
VIII.
Eine ganz andere Bewandtnis hat es
mit dem höheren Blödsinn. Entstanden ist die professionelle, mit
Fremdwörtern durchsetzte Dummheit der modernen Wissenschaft aus dem
Geiste der Rechtfertigung. Dass der nun einmal wirkliche
Staat, das Geld und „die Wirtschaft“, seine Institutionen von der
auslese-beflissenen Erziehung bis zum Militär, das die Rechte der
Nation gewaltsam nach außen sichert, auch vernünftig, weil
notwendig seien diesen Nachweis zu liefern, hielt der geistige Stand
der Macht gegenüber für seine Pflicht.
Und entsprechend fielen die Dogmen
der bürgerlichen Wissenschaft und Philo-sophie aus. Was nur durch
Gewalt, Klassenkampf und Krieg in Kraft gesetzt worden war, wurde
von A bis Z aus Bedürfnissen des Menschen, seiner Natur und seiner
Gattung eigenen Moralität „begründet“. Die Grundgedanken dieser
Lehren werden noch heute an den Universitäten weiter-gegeben. Sie
beruhen auf einem in jeder Disziplin speziell zurechtgestrickten
Menschenbild, wobei die Erfordernisse des jeweiligen Menschelns
in der politischen Herrschaft, der „Gesellschaft“ überhaupt, dem
Erziehungswesen, der psychologischen Bearbeitung, der Geschichte und
in der Kultur die passenden Antworten erfahren haben sollen. Die
Verwandtschaft mit der Religion braucht dieses Denken auch heute
nicht als Einwand gegen sich zu scheuen – manche Disziplinen geben
die diesbezüglichen Parallelen ihrer Teleologie mit der christlichen
Weltanschauung gerne zu Protokoll.
Probleme mit sich und ihrem
Verhältnis zur restlichen Nation hat sich diese Wissenschaft durch
ihre eigenen Fortschritte eingefangen. Einmal freie Wissenschaft
geworden und nur darauf erpicht, von der Sozialversicherung bis zur
Literaturgeschichte alles als sinnreiches Mittel einer
nur fiktiv existierenden Allgemeinheit zu betrachten, hat
sich die Zunft auf ein sekundäres Handwerk verlegt. In der
Gewissheit, dass ihre Deutung der Gegenstände zur verbindlichen, in
Kultur und Erziehung tradierten Auffassung wird, sind die Denker
darauf verfallen, ihre Theorien unangreifbar zu machen. Statt
sie in Gegensatz zu gegenteiligen Auffassungen zu stellen und den
Streit um die Wahrheit ihrer Gedanken zu führen, erläutern sie
heute freiwillig, dass sie einer Betrachtungsweise huldigen
und ihre Aussagen über Methoden zustande-kommen. Sie bekennen
sich zu Skepsis und Pluralismus, betonen, dass man
sich zu einer oder der anderen Methode zu entscheiden hätte – und
belabern die akademische Jugend mit den Vor- und Nachteilen der
verschiedenen Ansätze, dass der der Kopf brummt. Wissenschaft
bekämpft die Wahrheit schon in der Form des Urteilens und
Schließens, sofern diese Objektivität beansprucht, als
Dogmatismus. Was einmal Gegenstand der Theorie war,
bildet jetzt den Anlass für eine Diskussion über die
Möglichkeiten, Theorien zu bilden. Techniken der Modell-
und Hypothesenerstellung werden erörtert, und die Schwierigkeiten
beim fälligen Vergleich mit der Realität schließen sich an. So
versinken die ehernen Dogmen bürgerlichen parteilichen Denkens heute
in einem Wust von Selbstproblematisierungen, deren „Freiheit“ sich
darin erschöpft, den Gegen-stand von einst als Mittel der
Wissenschaft zu behandeln. Man forscht und lehrt über
verschiedene Weisen, theoretische Notwendigkeiten zu konstruieren,
die es dann zugegebenermaßen in der Welt „so“ nicht gibt. Die
wehrlose Tradition wird locker unter die Vorfahren der heutigen
Verfahrenstechniker eingereiht.
Den Schein des Nutzens
polieren Wissenschaftler trotz allem gerne auf. Bei jeder
Gelegenheit treten sie an die Öffentlichkeit und melden das
Sorgerecht um das Zeug an, was sie als Gegenstand einer
Erklärung verschmähen. Dann heißt es, die Demokratie und die
Literatur, die Schule und die Währung... seien in einer Krise
und müssten da schleunigst heraus. Eine ziemlich komplexe Art der
Dummheit, aber auch eine Art, nichts für verzichtbar oder wegwerfbar
zu halten, was die kapitalistische Produktionsweise (ge-)bietet:
Notwendigkeit nicht mehr logisch, sondern moralisch
„verstanden“.
IX.
Die dritte Abteilung der Dummheit
wäre leicht zu verschmerzen, würde sie nicht auch längst
öffentlich-rechtlich in Form von Preisausschreiben und
Quiz-Spektakeln gefördert. Sie beruht ebenfalls auf der Anerkennung
der Tatsache, dass nur nützliches Wissen zählt; weiterhin darauf,
dass die Pflege wirklicher Wissenschaft (Naturwissenschaft und
Technologie) in besten Händen ist und genützt wird – nämlich von
Staat und Kapital. Schließlich ist auch abgehakt, dass die
volkstümlichen Idiotien gut unter die Leute gebracht sind.
Offenbar als Reaktion auf die zur
schulischen Auslese und zur Hierarchie der Berufe so gut passende
Sortierung der Menschheit nach dem „Grad der Intelligenz“, als
Reaktion also auf die elitäre Dummheitsformel, sind manche von der
Bildung ausgeschlossenen Menschen auf einen Gegenbeweis verfallen.
Sie zeigen anderen, dass auch sie und sie ganz besonders
keineswegs dumm sind. Ohne Bezug – außer diesem psychologischen:
Anerkennung einer sonst unwichtigen, aber ausgezeichneten
Besonderheit – auf ihren Stand in Beruf, Staat, Familie lernen sie
die Fakten einer praktisch gar nicht zum Erklären reizenden Weltecke
und merken sie sich genau. Der eine sämtliche Olympiadritten, der
andere Königsnamen, wieder andere biographische Daten von Karl May
oder Komponisten von 400 Operetten. An der kleinen und überall
üblichen „Benutzung“ dieses „Wissens“, die privat als schlichte
Angeberei stattfindet, wird das „Motiv“ ebenso schlagend klar wie
die Beliebigkeit dessen, worin man „sich auskennt“. Hier schlägt die
Produktivkraft der Moral, die für Dummheit zuständig ist, um in
einen Psychofimmel. In der Wirtshauswette um ein dreißig Jahre altes
Fußballergebnis, um eine Hauptstadt oder den Komponisten des
Wolga-Liedes spielt sich eine Form der Selbstdarstellung ab und
weiter nichts. Ohne die Prätention des Geistes, dafür mit einem
absonderlichen Geschick, bringt sie inzwischen auch Leute ins
Fernsehen. Dass dergleichen als Unterhaltung durchgeht, belegt die
Verwahrlosung einiger Millionen Menschen, die ansonsten höchstens
beklagen, dass ihnen der Zutritt zum höheren Blödsinn „verweigert“
wurde, den sie nicht verstehen. Bildung als Signatur von „besser“
und Luxus.
X.
An Intelligenz fehlt es niemandem.
Sie ist das bestverteilte „Gut“ der Welt. Sie wird nur verkehrt
eingesetzt, nämlich zur Anpassung. Wer von dieser was hat, mag den
Schaden anderer durch seinen Spott ergänzen. Die anderen sollen sich
auf ihre Interessen besinnen – und für den Weg ihrer Durchsetzung
den Kapitalismus und die herrschende Staatsräson begreifen. Die
Intelligenz dazu haben sie jedenfalls.
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