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Johannes Schillo: Was heißt hier eigentlich Wende?

Von • März 22nd, 2024 • Kategorie: Allgemein

Johannes Schillo: Was heißt hier eigentlich Wende?

Militaristische Ideale, „Kriegstüchtigkeit“ & „Resilienz“ inklusive Neubestimmung des zivil-militärischen Verhältnisses, werden allseits propagiert. Inwiefern ist das eine Wende?

Seit der russischen Invasion in die Ukraine und der offiziell angesagten „Zeitenwende“ läuft hierzulande eine Gesinnungswende.

Beiträge bei Overton haben das thematisiert, etwa im Blick darauf, wie die „antirussische Moral in aller Pluralität durchgesetzt“ wird. Die Flugschrift „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“ (Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, VSA, 2023) hat ausführlich gewürdigt, wie seit dem Ukrainekrieg – bei aller antisowjetischen bzw. antirussischen Kontinuität in Sachen Feindbild und Feindschaftserklärung seit den Zeiten des Kalten Kriegs – eine Umstellung im nationalen Selbstbild Deutschlands auf den Weg gebracht wird. Und die Ansage von oben erfährt – bislang – tatkräftige zivilgesellschaftliche Unterstützung von unten.

Signifikanter Ausdruck dieser Wende sind etwa die Verdächtigungen, mit denen rückblickend das Agieren einer Kanzlerin Merkel oder eines Außenministers Steinmeier (um vom Kanzler Schröder ganz zu schweigen) als tendenzielle Fälle der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt wurden.

Belege für diese retrospektive Verurteilung deutschen Politikversagens hat Norbert Wohlfahrt in seinem JW-Beitrag „Der Wille zum Krieg“ zusammengestellt, und der Folgebeitrag zum neuen Erfordernis der Resilienz („Opfer für das Vaterland“) kommt ebenfalls darauf zu sprechen. Explizit Thema ist die Gesinnungswende samt den einschlägigen Methoden zu ihrer Durchsetzung jetzt auch im neuen JW-Beitrag über die „Bedingungslose Einheit“, die hierzulande in Gesinnungsfragen verlangt ist.

Ein Abschied vom Friedensidealismus?

Die Kontinuität abwehrbereiter Nationalmoral

Die Forderung nach einer Wende steht also in der Kontinuität einer Frontstaatsmentalität, die schon immer bereit war, auch angesichts von atomarem Overkill dem Feind aggressiv entgegen zu treten und in der westlichen Front keine Lücke zu lassen.

Was neu ist und somit einen Renovierungsbedarf bei der durch ihre vorbildliche
Vergangenheitsbewältigung geläuterten Nation hervorruft, ist die Tatsache, dass sich Deutschland zu einer autonomen Rolle in militärischen Dingen, zum offiziell angekündigten Status einer „Führungsmacht“ (Scholz), hinarbeitet. Nicht mehr die unbedingte Einbindung ins westliche Bündnis gibt die Leitlinie für eine Nation ab, die keine Sonderwege mehr gehen darf. Hier wächst – dank allgemeiner Militarisierung – vielmehr eine Großmacht auf, die ihre eigenen Ziele kennt und ihre eigenen Wege geht: die sich zum Krieg als ihrer ureigenen Sache bekennt.

Die deutsche Nation kennt jetzt ihre eigenständige Mission, sie ist nicht mehr bloß als Auftragnehmer und Mitwirkender diverser „Friedensmissionen“ unterwegs, nachdem sie 1993 den ersten bewaffneten Auslandseinsatz der Bundeswehr in Somalia absolviert und sich in der Folge immer wieder als größter Truppensteller an NATO-„Spezialoperationen“ beteiligt hat. Deutschland will und muss sich demzufolge – auch mit Blick auf einen möglichen Präsidenten Trump im nächsten Jahr – auf die eigene Politik der Stärke verlassen und sich die Unterstützung im europäischen Verbund beschaffen. In dem Rahmen soll der Weg zur Führungsmacht beschritten werden, hier ist Einigkeit gefordert.

Doch wie die letzten Äußerungen des französischen Präsidenten zu „boots on the ground“ in der Ukraine oder die Beschwerden des englischen Verteidigungsministers über den unfähigen politischen Führer Scholz erkennen lassen, ist die Führungsfrage ein brisantes Thema. Aus britischer oder französischer Perspektive wird der deutsche Anspruch, gelinde gesagt, distanziert aufgenommen. In dieser Lage kommt eben alles darauf an, dass wie in der guten alten Zeit des preußischen Militarismus im Innern klare Verhältnisse herrschen, das Volk mit seiner kriegsbereiten Führung aufs Engste zusammensteht – und alle vaterlandslosen Gesellen aussortiert werden.

https://overton-magazin.de/top-story/was-heisst-hier-eigentlich-wende/

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