contradictio.de

Kritik an Ideologien, Aufklärung über populäre Irrtümer, Kommentare zum Zeitgeschehen

Norbert Wohlfahrt: Ideal im Staatskorsett

Von • Jan. 14th, 2024 • Kategorie: Allgemein

Ideal im Staatskorsett
Die Debatte über Flucht und Migration nach der »Zeitenwende« erweist sich als zweigeteilter nationaler Humanismus
Von Norbert Wohlfahrt

Schon der oberflächliche Blick auf die Flüchtlingsdebatte der jüngsten Zeit offenbart ein eigenartiges Phänomen: Flucht und Migration werden stets ins Verhältnis zu den Nationen gesetzt, die als Aufnahmeländer die entscheidende Instanz der Flüchtlingshilfe repräsentieren, und es wird nach den Folgen für deren humanitäre Anliegen gefragt. »Welche Grenzen brauchen wir?« fragt Gerald Knaus in seinem 2020 erschienenen gleichnamigen Buch, in dem er eine Diskussion aufgreift, die, wie es im Klappentext heißt, von »Schlagworten, falschen Tatsachenbehauptungen und Scheinlösungen« bestimmt sei, und er »zeigt, dass humane Grenzen möglich sind«. Auch Volker Heins und Frank Wolff sehen die westlichen Demokratien gefährdet, wenn die sich »Hinter Mauern« (so der Titel des Buchs von 2023) radikal nach außen abgrenzen und damit »geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft« etablieren.

[…]

Es ist nur konsequent, dass auch die Zeitenwende den Humanisten der Flüchtlingshilfe nicht als Gelegenheit aufscheint, den forciert vorangetriebenen nationalen Humanismus auf seine souveränitätspolitischen Zielsetzungen hin zu befragen. Vielmehr nehmen sie den zweigeteilten Humanismus als Widerspruch des Nationalstaates zu seinen eigenen Idealen wahr und fordern Besserung ein. Ob das »Modell Ukraine« dabei als Vorbild für die gesamte Asyl- und Flüchtlingspolitik taugt, wird dabei selbst von deren Organisationen als Utopie eingestuft. Praktisch unternehmen die werteorientierten Nationen dabei einiges, um den Helfern ihre Arbeit zu erschweren: von der Seenotrettung bis hin zur Schleuserbekämpfung wird das, was diese Staaten selbst ins Werk gesetzt haben, mehr und mehr kriminalisiert und ins Abseits gestellt. Was bleibt, ist, wenn man der Linken glaubt, die Hoffnung auf eine Erwerbseinwanderung, die »menschenrechtliche Aspekte« im Blick behält (Akbulut 2023). Die Hoffnung stirbt eben nie aus.

Norbert Wohlfahrt kritisierte an dieser Stelle zuletzt am 4. Dezember 2023 die feministische Außen- und Sicherheitspolitik in der Zeitenwende.

Aus: junge Welt – Ausgabe vom 12.01.2024 / Seite 12 / Thema: Flüchtlingspolitik

https://www.jungewelt.de/artikel/467168.flchtlingspolitik-ideal-im-staatskorsett.html

Comments are closed.