Björn Hendrig: Armutsforschung: ein Armutszeugnis
Von webmaster • Dez. 18th, 2023 • Kategorie: AllgemeinBjörn Hendrig: Armutsforschung: ein Armutszeugnis
Weihnachten steht vor der Tür. Hochkonjunktur auch für eine ganz eigene Spezies Wissenschaftler – die Armutsforscher. Jetzt haben sie herausgefunden: Wer arm ist, hat Stress. Ach was.
Wie fühlt man sich wohl, wenn man Miete, Strom und Heizung kaum bezahlen kann, die Kinder nur mit billigem Essen ernährt und ihnen erklären muss, warum sie die Klassenfahrt nicht mitmachen können?
Wenn man den kaputten Kühlschrank nicht mal eben gegen einen neuen auszutauschen vermag, ein Urlaub einmal mehr nicht drin ist, ebenso wenig wie neue Schuhe oder Kleidung? Ganz zu schweigen von einem ordentlichen Auto. Die Antwort liegt auf der Hand: ziemlich schlecht.
In schöner Regelmäßigkeit widmen sich sogenannte Armutsforscher diesem Teil der Bevölkerung, verstärkt vor den Feiertagen zum Ende des Jahres. So auch aktuell.
Dieses Mal geht es um die spannende Frage, wie sich Armut auf das Gemüt auswirkt. Um die überraschende wissenschaftliche Erkenntnis vorwegzunehmen: Sie tut es, und zwar heftig.
Zu Zeiten der Corona-Pandemie hatten diese Wissenschaftler noch vor einem generellen Anstieg der Armut in Deutschland gewarnt, befürchteten eine weitere Spaltung der Gesellschaft und dass immer mehr Menschen aus der Mittelschicht in die Unterschicht abdrifteten.
Sie hatten einen unerwarteten Befund zutage gefördert: Die finanziellen Einbußen durch die Pandemie trafen Personen mit geringem Einkommen tatsächlich deutlich stärker als die mit den höchsten! Wer hätte das gedacht?
Also plädierten die Forscher für ein paar Euro Mindestlohn mehr und bessere Sozialleistungen. Auch deshalb, weil sonst die armen Leute womöglich falsche Schlüsse zögen, sich radikalisierten und gar extreme Parteien wählten.
Merke: Wer in seiner trostlosen Lage auf die Idee kommt, das habe auch etwas mit der herrschenden Politik zu tun, denkt verkehrt, gefährdet damit nichts Geringeres als die Demokratie – und das geht gar nicht. Da sind die paar Cent mehr für die Unterschicht doch gut investiertes Geld.
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Die zitierte Armutsdefinition ist daher willkürlich: Sie legt einen Wert fest, der ein Minimum an normalem Leben ermöglichen soll. Die Vorstellung dieses „normalen Lebens“ ist sehr niedrig angesiedelt – eine ausreichend große Wohnung, ein fahrtüchtiges Auto, gut ernährte und angezogene Kinder oder mehrere Urlaube im Jahr, nicht nur im Sauerland, zählen nicht dazu.
Die Armutsgrenze „60 Prozent vom Durchschnittseinkommen“ kommt als exakte Zahl daher. Sie zeigt aber nur eines an: Ab welchem Einkommen nach staatlicher Auffassung und wissenschaftlicher Einschätzung die Armut beginnt. Warum es nicht 50 oder 70 Prozent sind, kann nicht begründet werden – und wird es auch nicht.
Was die 60 Prozent allerdings suggerieren: Es gäbe so etwas wie eine objektive Armutsgrenze – was sie nicht ist. Was sie außerdem nicht ist, aber so erscheint: Sie sei ökonomisch hergeleitet.
Die Prozentzahl ist eine schlichte Setzung. Sie hat nichts damit zu tun, aufgrund welcher wirtschaftlicher Verhältnisse Armut zustande kommt. Sonst läge die Armutsgrenze weit höher. Nämlich so hoch, wie Menschen ihre Existenz nur dadurch bestreiten können, dass sie für ihre abhängige Beschäftigung regelmäßig von den sie Beschäftigenden Geld überwiesen bekommen.
Wie viel sie erhalten oder eben auch nicht, entscheidet dann Monat für Monat, ob sie zu den offiziell Armen gehören – oder sie in der Lage sind, den täglichen Anforderungen von Staat und Wirtschaft zu genügen.
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