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Theo Wentzke: Blutige Lektionen

Von • Dez. 7th, 2023 • Kategorie: Allgemein

Blutige Lektionen
Vom Segen staatlicher Souveränität in Zeiten der Kriege

Von Theo Wentzke

Im Krieg wird die Moralität der bürgerlichen Gesellschaft auf den Kopf gestellt: Was der Mensch im Frieden keinesfalls darf, andere Menschen umbringen, wird ihm nun befohlen; das Recht auf Leben, sein Schutz ein Höchstwert der Verfassung, weicht der Pflicht, es für den Staat hinzugeben. Die Umwertung der Werte macht den Krieg zur ultimativen moralischen Herausforderung.

Er provoziert – ausgerechnet – das Bedürfnis nach Rechtfertigung. Bedeutende und weniger bedeutende Inhaber einer Meinung beantworten allen Ernstes die Frage, ob die große Schlächterei – für welche Kriegspartei und unter welchen Gesichtspunkten – in Ordnung geht.

Nicht erst die unbedingte Parteilichkeit, mit der im NATO-Westen Schuld und Unschuld an den aktuellen Kriegen, Recht und Unrecht zum Bombardieren verteilt werden, schon die Frage, ob die das dürfen bzw. welche Kriegspartei was darf, die manche ja auch abweichend beantworten, ist ein einziger Fehler.

Die kriegführenden Seiten dürfen das nämlich; richtiger, »dürfen« ist die falsche Messlatte zur Beurteilung des Handelns höchster Gewalten: Die kennen kein höheres Recht über sich und demonstrieren genau das deutlich genug, wenn sie untereinander kriegerisch auskämpfen, welche Seite sich gegenüber der anderen was herausnehmen darf und welche Seite sich was gefallen lassen muss. Wenn sie nach dem Krieg bei geklärten Über- und Unterordnungsverhältnissen einen Frieden aushandeln, halten sie sich auch dann an kein Recht, sondern setzen neues.

Legitimation durch Herrschaft

Die Schuldfrage

Alternativlos Krieg führen

Gegensatz Staat und Mensch

Damit ist das Thema der letzten Prüffrage angeschlagen, mit der das rechte Verständnis in Kriegsdingen zu bilden ist: »Vertritt der Kriegsherr wirklich das Volk – oder missbraucht er es für eigene Machtambitionen?«

Der unbedingte Gegensatz von Staat und Mensch ist in dieser Welt von Staaten alles andere als unbekannt. Man muss nur wissen, wo er hingehört. Er gehört zum Feind. Ihm bestreitet man das unwahre »Wir«, das auf der eigenen Seite im Krieg unbedingt hochgehalten wird. Die Selbstbehauptung seiner Staatsmacht ist kein echter Staatsauftrag und kein Volksbedürfnis, sondern die egomanische, eventuell größenwahnsinnige Ambition eines, nun auch so genannten, »Herrschers«.

Diese Unterscheidung definiert auch die Rolle der menschlichen Machtinstrumente, die im Krieg zum Einsatz kommen.

Die an die Front beorderten Soldaten, deren Lebenserwartung gegen null geht, werden im Fall der befreundeten und mit Waffen ausstaffierten Ukraine als Subjekte des Krieges hofiert: Sie verteidigen sich, und wenn sie sterben, sind sie nicht, sondern bringen sie ein Opfer für ihr Volk und seine Zukunft. Sie sind Helden.

Dieselben Soldaten auf der anderen Seite, die in derselben Lage dasselbe tun, sind Kanonenfutter, sie sterben sinnlos, verteidigen kein »Wir«, sondern sind missbrauchte Opfer eines grundlosen, persönlichen Machtwillens. Und wenn Putin Orden verleiht und Heldengedenktage ausrichtet, durchschaut jeder den Zynismus.


Mehr zum Thema Krieg in der Ukraine und in Nahost sowie zu weiteren Themen im kommenden Heft 4/23 der Zeitschrift Gegenstandpunkt, das bestellt werden kann unter: https://de.gegenstandpunkt.com/

Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 18. Oktober zur Ökonomie des israelischen Besatzungesregimes in der Westbank.:
https://www.jungewelt.de/artikel/461328.israel-palstina-ein-volk-das-strt.html?sstr=

Aus: junge Welt – Ausgabe vom 06.12.2023 / Seite 12 / Thema: Staatsgewalt und Machtressourcen

https://www.jungewelt.de/artikel/464700.staatsgewalt-und-machtressourcen-blutige-lektionen.html

One Response »

  1. Leserbriefe zum Artikel:

    Joachim S.:
    „Diesem Artikel mit dem einprägsamen Titel wäre ein Millionenpublikum zu wünschen. Schließlich ist es wichtig zu verstehen, wieso sich das gemeine Volk niemals mit den Kriegstreibern und ihren hehren Losungen gemein machen darf. Die tönenden Worte werden einzig von den Herrschenden und ihren Interessen diktiert. Die blutigen Konsequenzen aber muss danach immer das einfache Volk tragen.“

    Franz S.:
    “ (…) Bräuchte man ein Musterbeispiel für Äquidistanz, könnte man diesen Artikel durchaus hernehmen. Lernen kann man von dieser wortreichen Standpunktlosigkeit nichts, außer: Die Welt ist böse, überall finstere Mächte am Werk, der Staat ist – ohne Unterschied – die Wurzel allen Übels (Zwischenüberschrift: »Gegensatz Staat und Mensch«).
    Zu dieser Art von »Analyse« schrieb eine kommunistische Zeitung (KAZ) im Februar 2020: »Desorientierung – das letzte Wort des Trotzkismus im Größer-Deutschland!«“

    DerDzien:
    „Vielleicht einmal die banale Frage: ist es denn falsch, was Wentzke da schreibt? Ist denn falsch, dass er feststellt, dass der russische Staat rücksichtslos – für seine staatliche Souveränität – Menschen verheizt? Nein, ist es nicht!
    Und noch eine Frage: Was ist denn die Verteidigung der Staatssouveränität anderes als die Verteidigung des Macht- und Herrschaftsanspruch über ein bestimmtes Territorium und eines – wenngleich deutlich geringere als diejenige des westlichen Machtblocks – Einflussgebiets, das sich über die eigenen Staatsgrenzen hinaus erstreckt? Das ist exakt das gleiche! (…) So wie ich den Text verstehe, wird nirgends eine moralische Wertung eingebracht, genau so wenig wie eine Praxisorientierung (eben typisch GSP). Was man daraus macht, ist die Sache der Kommunisten, die das lesen. Dass du nicht die – für dich richtigen (für mich reduktionistischen) – moralischen Positionen bekommst, die du erwartet hast, liegt im Wesen des Textes. Er analysiert, schlägt keine Position vor. Das alles mit dem Schreckgespenst der »bösen Äquidistanz« zu titulieren, widerlegt den Inhalt nicht.“

    https://www.jungewelt.de/artikel/464700.staatsgewalt-und-machtressourcen-blutige-lektionen.html