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Norbert Wohlfahrt: Woke und wehrhaft

Von • Nov. 12th, 2023 • Kategorie: Allgemein

Woke und wehrhaft
Was Deutschland jetzt braucht. Die Wissenschaften und die »Zeitenwende«. Ein Lektürekurs
Von Norbert Wohlfahrt

Infolge des Ukraine-Kriegs wird in der Öffentlichkeit zufrieden registriert, dass Deutschland »in der Normalität« angekommen ist. Die mit Schuld und Sühne belasteten Nachkriegsjahre sind überwunden, der spezielle Friedensidealismus der BRD gehört der Vergangenheit an, patriotisches Denken wird allseits gefordert und gefördert. Das Außenministerium entwickelt Leitlinien für eine »feministische Außenpolitik«, die »außenpolitische Realitäten« anerkennt und »sowohl Werte als auch Interessen deutscher Außenpolitik im Blick« hat, wie es in den entsprechenden Leitlinien des Auswärtigen Amtes heißt.

Dass feministische Außenpolitik »nicht gleichbedeutend mit Pazifismus« ist, kann man allein schon an den nüchternen Zahlen ablesen. Der Einzelplan 14 des Bundeshaushalts 2024 sieht militärische Ausgaben in Höhe von 51,8 Milliarden Euro vor. Hinzu kommt das sogenannte Sondervermögen Bundeswehr, das für die Beschaffung militärischer Mittel weitere 19,2 Milliarden Euro bereitstellt. Nach NATO-Kriterien liegen die Militärausgaben der Bundesrepublik bei 85,5 Milliarden Euro, wobei neben den Ausgaben des Einzelplans 14 noch andere Einzelpläne hinzukommen.

Die neue deutsche »Normalität« wird flankiert von einem werteorientierten Moralismus, der sich nicht nur in Sachen Feminismus anderen Nationen überlegen dünkt und der mit der Außenministerin über ein Sprachrohr verfügt, das diesen moralischen Überlegenheitsgestus mit Belehrungen über die Gültigkeit der regelbasierten Werteordnung zur Freude der Staatenwelt zu verknüpfen weiß.

Der offensive deutsche Nationalismus lässt die mit Analysen und Prognosen der internationalen Staatenkonkurrenz beschäftigte Wissenschaft nicht unberührt. Dabei kommt die deutsche Wissenschaft als Beobachter des Weltgeschehens zu durchaus kritischen Ergebnissen, die der »Zeitenwende« kein allzu gutes Zeugnis ausstellen. Denn aus Sicht der Expertinnen und Experten eines durchsetzungsfähigen (deutschen) Imperialismus ist die »Weltunordnung« in erster Linie ein Ergebnis der Versäumnisse der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart hineinreichen: Der Feind wurde unterschätzt, das Militär vernachlässigt und die Gesellschaft nur ungenügend auf die Herausforderungen kriegerischer Zeiten vorbereitet.

Imperium und Demokratie

Probleme der Macht in der Mitte

Bescheidener Vorzeigestaat

Bedingt abwehrbereit

Inklusiver Nationalismus

Mit dieser Kenntnis der Innensicht des Feindes gewappnet, kann die Politikwissenschaftlerin sich an das Werk machen, das auch ihren schriftstellernden Kollegen so am Herzen liegt: die Gründe des halbherzigen Nationalismus der vergangenen deutschen Politik zu benennen und dessen Ablösung durch einen unverstellten und feministisch aufgeklärten Nationalismus im Rahmen einer ihrem Begriff gerecht werdenden »Zeitenwende« zu fordern.

Das erstere ist schnell erledigt: Deutschland war angesichts der Verbrechen der Nazis gegenüber den »Vernichtungskriegen im Osten« zu sehr gehemmt, und die deutsche Abhängigkeit von russischer Energie gab die Richtung für »viele politische Entscheidungen« vor. »Die wachsende chauvinistische Bedrohung durch das Putin-Regime wurde hingegen so lange wie möglich verdrängt.«

Hat die »Zeitenwende« an diesem verhängnisvollen Zustand etwas geändert? Die Antwort Fischers ist ein entschiedenes Jein. Zwar hat Deutschland Waffen geliefert, eine Energiekrise in Kauf genommen und wirtschaftliche Sanktionen durchgesetzt, es hat aber auch zugelassen, dass die »Legende von der westlichen Blockade eines Friedensabkommens in den ersten Kriegstagen (…) in Deutschland schnell zum Teil einer politischen Kampagne« wurde. Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer agieren hier quasi als fünfte Kolonne Moskaus.

Was empfiehlt die Russland-Expertin der feministischen Außenpolitik? Oberste Priorität hat die Niederringung des Feindes: »Die Ukraine muss militärisch, wirtschaftlich und politisch unterstützt werden, damit sie den Krieg für sich entscheiden und sich zu einem demokratischen Mitglied der EU und der NATO entwickeln kann.« Aber diese nicht ganz unbescheidene Programmatik reicht bei weitem nicht aus. Deutschland muss seine Osteuropapolitik »vom Kopf auf die Füße stellen, die Ukraine, Moldau und Georgien in den Mittelpunkt stellen« und den Feind im Inneren in Gestalt der »russischen Propagandanarrative« ins Visier nehmen. Mit diesem Friedensprogramm einer feministisch grundierten »Zeitenwende« lässt sich dann nicht nur das Vertrauen jenseits des Atlantiks zurückgewinnen, sondern auch dem durch »Männerbünde à la Schröder–Putin« repräsentierten Chauvinismus entgegentreten.

Norbert Wohlfahrt schrieb an dieser Stelle zuletzt am 4. September über Denkfabriken als Instanzen westlicher Kriegführungsstrategien.

Aus: junge Welt – Ausgabe vom 08.11.2023 / Seite 12 / Thema: UKRAINE-KRIEG
https://www.jungewelt.de/artikel/462731.ukraine-krieg-woke-und-wehrhaft.html

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