Theo Wentzke: Riskantes Manöver
Von webmaster • März 26th, 2022 • Kategorie: AllgemeinRiskantes Manöver
Der Präsident El Salvadors verspricht sich von der Einführung des Bitcoins als Zahlungsmittel einen Weg aus der US-Abhängigkeit
Von Theo Wentzke
Im Jahr 2019 gewinnt Nayib Bukele die Präsidentschaftswahlen von El Salvador. Der 40jährige politische Newcomer, der sich der Öffentlichkeit gerne – immer eifrig twitternd – mit verkehrt herum aufgesetzter Baseballmütze präsentiert, regiert das Land seither mit seiner neu gegründeten Partei »Nuevas Ideas« auf Basis einer bequemen Zweidrittelmehrheit. Aufgrund der von ihm sogleich ergriffenen Maßnahmen zur Durchsetzung von mehr Staatsgewalt im Land fällt er nicht nur der hiesigen Presse, sondern auch den USA mit ihrem kritischen Blick auf die Regierungen in ihrem zentralamerikanischen Hinterhof auf, die ihn nachdrücklich abmahnen im Hinblick auf in ihren Augen autoritäre und demokratisch bedenkliche Eigenmächtigkeiten.
Noch deutlich größere internationale Aufmerksamkeit erzielt schließlich seine Ankündigung, ab September 2021 als globale Premiere neben dem US-Dollar den Bitcoin als offizielles Zahlungsmittel in El Salvador zu etablieren. Finanzexperten und Kommentatoren in der Öffentlichkeit weltweit sind sofort hellhörig, zeigen sich »skeptisch« und halten die Einführung des Bitcoins als Zahlungsmittel für »riskant«, mindestens für »unvernünftig«, wenn nicht gar für die »Spinnerei« eines populistischen neuen Idols der Bitcoin-Fangemeinde. Im Hinblick auf das Geld in Händen des Volkes erscheint manchem die Bitcoin-Einführung »zynisch« – schließlich kennt man die »Volatilität« des Bitcoin-Kurses an den internationalen Finanzmärkten. Und man fragt sich besorgt, ob das staatliche Vorhaben überhaupt funktionieren kann. Aus diesem Konzert kritischer Begutachter sticht die warnende Stimme des IWF hervor, da das hochverschuldete El Salvador schon länger von dessen Krediten abhängig ist, deshalb unter dessen Aufsicht und aktuell wieder in Kreditverhandlungen steht.
Davon lässt sich Bukele als selbstberufener Retter seines Landes aber nicht beeindrucken: Entgegen solchen Warnungen verspricht er sich offenbar etwas von der Einführung des Bitcoins als alternatives Geld unter seiner Hoheit für El Salvador – nach eigener Auskunft nicht weniger als die Befreiung seines Landes aus jahrzehntelanger Misswirtschaft und -herrschaft.
Dollar statt Colón
Zweite Landeswährung
Frei und herrenlos?
Lauter Versprechungen
Spekulation für alle
Affront gegenüber Washington
In der Sache stellt die »Bitcoinisierung« El Salvadors deshalb einen Affront in mehrfacher Hinsicht dar. Sie unterminiert den in El Salvador ausgetragenen Antidrogenkrieg der USA. Sie verstößt unmittelbar gegen den grundsätzlichen Bedarf der USA an Kontrolle aller Machenschaften der finanzkapitalistischen Akteure rund um den Bitcoin und ruft notwendigerweise die Weltmacht und ihre Partner mit den von ihnen dominierten Instanzen der Weltwirtschaft auf den Plan; schon gleich, wenn ein minderbemittelter politischer Teilnehmer am Weltmarkt sich unautorisiert auf dieses noch nicht fest geregelte Derivategeschäft kapriziert. Die Aufseher über die internationale Konkurrenz sind ohnehin schon wegen der zunehmenden spekulativen Verwendung von Kryptowährungen damit befasst, Ge- und Verbote zu erlassen, die deren fortschreitende »Integration« in den üblichen Kapitalismus, in ihnen genehme Bahnen lenken sollen. Sie fassen von daher das ganze Projekt, das auf eine Absage an und einen Entzug aus derartiger Aufsicht zielt, sehr prinzipiell als einen Verstoß gegen ihr weltweites Finanzregime auf – begleitet von den kritischen Abwägungen der Öffentlichkeit. Und die Bitcoin-Unternehmung reiht sich damit ein in die von Washington aufgemachte Liste von Verstößen El Salvadors gegen den grundsätzlichen Aufsichtsanspruch der amerikanischen Vormacht; die hat die Regierung Bukele ohnehin als Störenfried ausgemacht.
So wird dieser haltlose Versuch, der Dollar-Herrschaft ein Stück weit zu entrinnen, um mehr Dollars in Reichweite staatlicher Verfügung zu bringen, von vornherein zu einem höchst riskanten Manöver für die Regierung, weil ihr die maßgeblichen politischen Aufsichtsinstanzen mit Konsequenzen drohen. Und das quittieren die Weltfinanzmärkte – vorausschauend, wie sie sind – mit den Mahnungen des IWF im Ohr ganz
sachgerecht: Sie strafen das Land mit seinen Staatsanleihen wegen des wesentlich gestiegenen Ausfallrisikos, dessen sie sich bei absehbarer Nichteinigung mit dem IWF gewiss sind, mit einem kräftigen Kurseinbruch auf dem freien Markt ab.
Mehr zum Thema Bitcoin und El Salvador sowie weitere Themen im aktuellen Heft 1/2022 der Zeitschrift Gegenstandpunkt. Zu beziehen
unter: www.gegenstandpunkt.com
Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 29. Dezember 2021 über die Einführung von Euro-Bonds.
Aus: junge Welt – Ausgabe vom 23.03.2022 / Seite 12 / Thema: Die USA und ihr Hinterhof
https://www.jungewelt.de/artikel/423192.die-usa-und-ihr-hinterhof-riskantes-man%C3%B6ver.html
Konformistische Rebellion
»Querdenker«, »Demokratischer Widerstand«, »Freie Sachsen«. Protest aus lauter Identität mit den kapitalistischen Lebensverhältnissen
Von Theo Wentzke
Bei seinem Kampf um die Volksgesundheit in Pandemiezeiten trifft der bundesdeutsche Staat auf eine neue Art Gegnerschaft. Er sieht sich konfrontiert mit Protest gegen seine seuchenpolitischen Maßnahmen, mit offensiver Missachtung der verordneten Hygieneregeln sowie mit Hassattacken auf Politiker. Der Verfassungsschutz diagnostiziert einen neuen, »den Staat delegitimierenden Extremismus«, der natürlich nicht geduldet werden kann, weil die Staatsmacht schließlich ein Recht darauf hat, von den Bürgern als legitime Herrschaft anerkannt zu werden. Die andere Seite sieht sich ebenfalls im Recht, wenn sie gegen »Freiheitsberaubung« und »Coronadiktatur« aufsteht: Wo Recht zu Unrecht wird – so ihre erzdemokratische Rechtfertigung – wird Widerstand zur Pflicht!
Wenn Gastwirte, die ihr Lokal schließen müssen, Soloselbständige, die ihr Einkommen verlieren und auf staatliche Hilfen angewiesen sind, Naturheilkundler, die ihr Immunsystem durch Impfungen bedroht sehen, gestresste Eltern im Homeoffice und Anhänger der Clubszene, die tanzen wollen, sich zum »Querdenken« entschließen, dann ärgern sie sich nur in erster Instanz über die Wirkungen der seuchenpolitischen Eingriffe des Staates.
Ihre verschiedenen, von der läppischen Zumutung der Maske bis zur Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz reichenden Betroffenheiten vereinheitlichen sie und lassen sie aufgehen in dem ungeheuren Vorwurf, die verfassungsmäßige Freiheit werde abgeschafft. Sie legen sich quer gegen den für sie unfassbaren nationalen Konsens, der die coronapolitischen Verordnungen als vernünftig, weil in der gegebenen Situation nötig, akzeptiert. Die Hinnahme der Eingriffe ins hohe Gut der Freiheit erklären sie sich als Produkt einer Gleichschaltung der Meinungen, für die sie die Politiker, die zusammen mit dem medizinischen Sachverstand das Virus hochjazzen, die »Lügenpresse«, die alternative Auffassungen totschweigt, vor allem aber staatsgläubige Bürger verantwortlich machen, die sich von ein bisschen Angstmache so billig ihre Freiheit abhandeln lassen und brav gehorchen, wenn die Herrschenden befehlen.
Dem Meinungsterror dieser geschlossenen Front widersetzen sie sich als die wahren Demokraten, die sich eigene Gedanken und ihre Selbstbestimmung nicht verbieten lassen: Sie bestreiten dem Konsens seine Vernunft und dem Staat jedes Recht zu seinen Eingriffen.
Verbote sind kein Schutz!
Bürgerfreiheit und staatlicher Garant
Radikalisierte Normalbürger
Abgrund an Freiheitsverrat
Es gibt offenbar nicht sehr viele Varianten, sich im tiefen Glauben an eine eigentliche Harmonie von politischer Herrschaft und beherrschtem Volk über deren Abwesenheit aufzuregen.
Aber eine linke Variante gibt es schon noch: Sie weiß – das ist das Linke an ihr –, dass hinter der Gesundheitsdiktatur nicht einfach machtgeile Personen stecken, sondern System. Dass der Staat nicht im Sinn des Volkes, sondern gegen es agiert, erklärt diese linke Abteilung – wie könnte es anders sein – mit der Krise des Kapitalismus, dem universellen Sachzwang zum Kujonieren der Massen: »Weil das bisherige Akkumulations- und das mit ihm verbundene exzessive Globalisierungsmodell der letzten etwa 50 Jahre an seine Grenzen gekommen war«, haben die Herrschenden »beschlossen, die Reißleine zu ziehen« – »und so ›ereignete‹ sich seit März 2020 das, was die Menschheit als Coronakrise zu gewärtigen hat«.⁹
Was das Virus und die staatlichen Maßnahmen gegen seine Verbreitung mit einem Akkumulationsmodell und dessen Grenzen zu tun haben? Bill Gates und die Drahtzieher vom Davoser Weltwirtschaftsforum werden es schon wissen … Auch linksherum lässt sich ein geheimer Zusammenschluss der Mächtigen beschwören, in dessen Licht die Coronapolitik ihren wahren Sinn offenbart: Der »finanzkapitalistisch-staatsterroristisch-militärisch-industrielle Kommunikationskomplex« betreibt die Rettung eines unhaltbar gewordenen Akkumulationsmodells.¹⁰
Letzteres ist den normal unzufriedenen, queren Bürgern, die im Mitlatschen auf Anticoronademos ihre Freiheit genießen, wahrscheinlich zu quer. Aber es langt ja fürs Mitmachen, was den Verfassungsschutz mit seinem »rechts/links/Ausländer«-Schema vor Rätsel stellt: »Querdenker« und -innen brauchen es gar nicht ausdrücken zu können – sie leben, jedenfalls in den seligmachenden Viertelstunden ihrer Umzüge, den Schwindel vom selbstbestimmten Kollektiv Gleichgesinnter, das vor und unabhängig von seiner verhaltensauffälligen Regierung existiert und als Auftraggeber über ihr steht; also vom Volk, das in ihrer Phantasie von niemandem beherrscht wird als von sich selbst. Aus diesem Hochgefühl frisch entdeckter Selbstbestimmung heraus animieren sie den Rest der nationalen Herde, die von der »Lügenpresse« in die Irre geführten »Schlafschafe«, zum Ausgang aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit: »Denk doch mal selber nach!!!«
Das geht ganz leicht. Mitspazieren reicht: für den Genuss der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde, die sich durch das Recht auszeichnet, »die anderen« zu verachten. Nämlich als dumme Masse, die mit ihrem Gehorsam selbst erzeugt, worunter sie sich unterwirft: »Tyrants don’t create the tyranny. Your obedience does.«¹¹ Selbsteln macht frei; »die anderen« doof finden verbindet. So geht Oppositionsgeist heute.
Dieser Artikel erschien als Teil einer alternativen Bilanz von 16 Jahren Merkel im aktuellen Heft 1/2022 der Zeitschrift Gegenstandpunkt. Die gesamte Bilanz ist zu beziehen unter:
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/16-jahre-merkel-eine-alternative-bilanz
Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 23. März 2021 über die Einführung des Bitcoins als Zahlungsmittel in El Salvador als riskantes Manöver aus der US-Abhängigkeit.
Aus: junge Welt – Ausgabe vom 05.04.2022 / Seite 12 / Thema: Protestkultur
https://www.jungewelt.de/artikel/424065.protestkultur-konformistische-rebellion.html
Der linke Podcast Wohlstand für Alle greift in der neuen Folge ‚Der Bitcoin-Crash und El Salvador‘ den aktuellen GS-Artikel auf, falls es jemanden interessiert:
https://www.youtube.com/watch?v=c6OlFZ9eEfE