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Aus dem Archiv: Ist der Marxismus endgültig widerlegt? (Mai 1990)

Von • Okt. 7th, 2021 • Kategorie: Allgemein

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[Der nachfolgende Artikel aus einer Sonderausgabe der Hamburger Hochschulzeitung vom Mai 1990 befasst sich aus damals aktuellem Anlass mit einer abschließenden Kritik der realsozialistischen Staatsideologie des Marxismus-Leninismus, der bekanntlich abgedankt hatte, versus bürgerlicher Wissenschaft. Er wurde von einem Leser übertragen und der Seite „Wissen und Kritik“ zugeschickt.]

 

Ist der Marxismus endgültig widerlegt?

Bürgerliche Wissenschaft contra Marxismus-Leninismus – Kampf zweier Weltanschauungen

 

Der Marxismus ist die Erklärung des Kapitalismus. Sie ist sogar käuflich zu erwerben in Gestalt der drei Bände des „Kapital“. Aber wer will das schon? Seit neuestem halten nämlich selbst Leute den Marxismus für widerlegt, die ihn überhaupt nur in zwei verfremdeten Gestalten kennengelernt, vielleicht auch vertreten haben. Bekannt geworden sind weniger Marxens Entdeckungen über Ware, Geld und Lohn. Reüssiert haben unter dem Stichwort Marxismus vielmehr zwei Vorurteile über ihn: einmal die realsozialistische Philosophie des historischen und dialektischen Materialismus, zum anderen die Verdolmetschungen der Marx-Schriften seitens der bürgerlichen Wissenschaften in lauter Beiträge zur eigenen humanistischen Tradition und Methodenvielfalt, oder auch als philosophisch verbrämte Empfehlung zu Stalinismus und Gewaltherrschaft – je nach Geschmack.

Nicht ein Streit um den Marxismus hat die alte Systemkonfrontation begleitet, sondern der Kampf zweier Weltanschauungen, die nicht Er-, sondern Bekenntnisse produziert haben für ihren jeweiligen politischen Dienstherrn. Dieser Kampf gilt nun als entschieden. Der reale Sozialismus dankt ab und gesteht öffentlich sein Scheitern ein, und deswegen halten nicht nur Bürger, sondern auch östliche Marxisten-Leninisten die Weltanschauung für erledigt, die sie Marxismus getauft hatten. Den Sieg trägt die bürgerliche Weltsicht davon. Mit einer Widerlegung des Marxismus hat das wenig zu tun, viel dagegen mit dem Opportunismus von Staatsideologen, die für die Verhältnisse, nicht über sie denken.

Von einer Widerlegung des Marxismus kann schon deswegen nicht die Rede sein, weil es selbst an der Voraussetzung dazu fehlt: ein theoretischer Einwand hätte gegen Marxens Theorie erhoben werden müssen, um dessen Stichhaltigkeit es dann überhaupt erst gehen könnte. Davon war und ist nichts zu sehen. Stattdessen nimmt die Öffentlichkeit das östliche Eingeständnis des realsozialistischen Scheiterns als Argument und hinlänglichen Beweis.

Gerade so, als könnte der praktische Erfolg einer Staatsgewalt die Richtigkeit einer Theorie belegen, so daß umgekehrt aus der Kurskorrektur östlicher Politik auch die Widerlegung der zugehörigen Wissenschaft abzulesen sei. Als gäbe es nicht durchaus vernünftige Interessen an ordentlichen Lebensverhältnissen, die nur deswegen scheitern, weil sie eine überlegene Gewalt gegen sich haben. Nach obiger Vorstellung ist Politik nichts anderes als angewandte Wissenschaft, Herrschaft die Vollstreckung menschlicher Vernunft – oder Unvernunft, je nachdem, ob die jeweilige Herrschaft gemocht oder verachtet wird.

 

Wie wenig davon die Rede sein kann, ist dem weltanschaulichen Prinzipienstreit zu entnehmen, den sich dialektisch-materialistische Philosophen mit ihren bürgerlichen Kontrahenten geliefert haben.

Nicht vernünftige Urteile über die Welt, sondern geistige Konstruktionen zur Anschauung der Welt zeichnen ihn auf beiden Seiten aus – also der Wille zum Vorurteil, vermittels dessen die Welt in genau dem rosigen Licht erscheint, in dem man sie jeweils sehen möchte.

 

Die dabei in Anschlag gebrachten Prinzipien sind zum Gemeingut der Studenten in West und Ost geworden: Sein und Bewußtsein;

Menschenbild: Egoismus und Altruismus; Individuum und Gesellschaft; Skepsis und Vernunftglaube. Aber der Reihe nach.

 

Sein und Bewußtsein

 

Das Menschenbild: Egoismus und Altruismus

 

Individuum und Gesellschaft

 

Skepsis und Vernunftglaube

 

Fazit: Die Freude im westlichen Lager über die Abdankung des Marxismus-Leninismus ist unangebracht. Der Unsinn bürgerlicher Wissenschaft wird nämlich nicht dadurch besser, daß die östliche Konkurrenz aufgibt und am Ende noch zu Kreuze kriecht.

 

Aus: Hamburger Hochschulzeitung, Sonderausgabe 1990, Marxistische Gruppe

 

 

https://wissenundkritik.de/schnipsel-und-loses/

 

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