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Theo Wentzke: Die geimpfte Nation

Von • März 19th, 2021 • Kategorie: Allgemein

Die geimpfte Nation

Debakel? Nationalismus? Germany first? Ein Land versorgt sich mit Vakzinen und sieht die anderen Staaten seiner Preisklasse als Rivalen im Rennen um den besten Ausgang aus der Pandemie

Von Theo Wentzke

 

Ende Dezember, mitten im etwas freudlosen Weihnachtslockdown, beginnt das große Impfen in Deutschland und Europa. Und bevor die deutschen Bürger ihren Termin erfahren und eine Kanüle zu Gesicht bekommen, impfen sie Merkel und Co vorab mit der salbungsvollen Botschaft, dass Vernunft und Vertrauen der Bevölkerung in die Pandemiepolitik nun mit dem Vakzin belohnt werden. Dank der tatkräftigen Regierung ist die »große Hoffnung« angesagt, dass es mit den staatlichen Beschränkungen, unter denen die bürgerliche Existenz so leidet, demnächst ein Ende hat und es endlich »eine Perspektive« gibt.

 

Diese Aussicht wird ausdrücklich mit Europa verknüpft: Deutschland verzichtet auf nationale Alleingänge und überantwortet Beschaffung und Verteilung des Impfstoffs der EU-Kommission, so dass jetzt auch noch eine »große Stunde für Europa« schlägt, ein »berührender Moment der Einigkeit und Solidarität« (EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) anbricht, der, so wie die 60 Nationalitäten im Biontech-Konzern, zeigt, »dass es die europäische und internationale Zusammenarbeit, dass es die Kraft der Vielfalt ist, die den Fortschritt bringt« (Merkel, Neujahrsansprache). Daneben lebt Deutschland gleich auch noch den »Multilateralismus« vor – mit Finanzierung der UN-Initiative Covax, die die internationale Verteilung der Dosen übernimmt und für weltweite »Impfgerechtigkeit« gegenüber der ärmeren Staatenwelt sorge – in wohltuender Abgrenzung von dem egoistischen »Impfnationalismus« der von Trump geführten USA …

 

»Kritische Fragen«

 

Politischer Nationalsport

 

Die Sorgen der Edelpatrioten

 

Interessen haben nur die anderen

 

Zurück nach Deutschland. Nach vier, fünf Wochen erschöpfender Debattenkultur über den Missstand, dass »die Welt impft und Deutschland debattiert« (SZ, 8.2.21), kommen auch einige Journalisten der jedem »primitiven« Nationalismus abholden SZ zu der interessanten Einsicht, dass in den USA mit ihrem »Warp speed«-Projekt, ihrem »Defense act«, der überlegenen Dollarmacht usw., deren Einsatz allein und ausdrücklich nur der eigenen Nation gilt, alles richtig gemacht worden ist: »Donald Trump also als Vorbild? Ausgerechnet jener Präsident, der lange prophezeite, das Virus werde von ganz allein wieder verschwinden? Das ist eine weitere, bittere Pointe in dieser Coronapandemie.« (Ebd.)

 

Etwas später finden investigative Journalisten von SZ, NDR und WDR heraus, dass der EU-Kommission irgendwie doch »unser« aller Dank gebührt, weil sie den Halsabschneidern von Biontech und Pfizer den Preis für eine Impfdosis um zwei Drittel gedrückt hat. Das wird wiederum von Biontech heftigst bestritten. Man sieht: Der Kampf ums Impfen geht weiter …

 

Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12. und 13. Januar

20221 zur Wohnungsfrage im Kapitalismus.

 

Mehr zum Thema Coronapandemie im demnächst erscheinenden Heft 1/2021 der Zeitschrift Gegenstandpunkt. Im Buchhandel und beim Verlag unter https://de.gegenstandpunkt.com zu beziehen

 

Aus: junge Welt – Ausgabe vom 18.03.2021 / Seite 12 / Thema:

Impfnationalismus

 

https://www.jungewelt.de/artikel/398848.impfnationalismus-die-geimpfte-nation.html

One Response »

  1. Geglaubte Lebenslüge
    Antirassisten gegen Rassisten: Der Klassenstaat und seine verfeindeten Moralisten
    Von Theo Wentzke

    Rassismus im Sinne einer Rechtslage, mit der die Staatsgewalt die Diskriminierung von Teilen der Bevölkerung bis hin zu ihrer Eliminierung verordnet oder erlaubt, gibt es im modernen bürgerlichen Gemeinwesen nicht mehr. Weder im Sinn eines kolonialen Vorrechts, das die Herrschaft über unmündige Völker legitimiert, noch im Sinn der Nürnberger Gesetze, die von der Zugehörigkeit zu einer arischen Herrenrasse, die ein Recht auf Weltherrschaft hat, die Staatsbürgerschaft abhängig machen, noch im Sinn eines Rechts auf Eigentum an Menschen, das Sklaverei als Bestandteil der politischen Ökonomie festschreibt. Im Gegenteil: Der heutige Rechtsstaat verbietet sich und überhaupt rassistische Diskriminierung, weil sie zu seiner Räson nicht passt.

    Seine politische Ökonomie, die aus fremder Arbeit immer mehr Reichtum in Form produktiv angewandten Privateigentums herausholt, organisiert er mit seinem bürgerlichen Gesetzbuch unter der Prämisse der rechtlichen Gleichheit seiner Bürger als sozialfriedliches Tauschverhältnis zwischen »Arbeitgebern« und für ihre Dienste bezahlter Belegschaft.

    Seinen Zugriff respektive den seiner Konzerne auf die Ressourcen der Außenwelt, die Ausnutzung fremder Länder mit ihrem lebenden und toten Inventar, regelt er als Handelsverkehr im Rahmen einer multilateralen, quasi suprastaatlichen Geschäftsordnung, die Gleichberechtigung und Fairness verspricht; als Welthandel, der wie von selbst den »Exportweltmeister« BRD und andere kapitalistische Großmächte bereichert.

    Sein Volk definiert dieser Staat als seinen exklusiven Besitzstand durch die Lizenz – die praktisch niemand ablehnen kann –, sich frei als Aktivist der Konkurrenz um Geld und Lebenschancen nützlich zu machen – im Fall der BRD: nützlich für den Reichtum und die darauf gegründete Macht des Staates, als Führungsnation der EU den »Rivalen« USA, VR China und Russland mindestens »auf Augenhöhe« zu begegnen, gleichrangig im Kampf um Vorrang voreinander und um Bevormundung der restlichen Staatenwelt.

    Sein Staatsvolk sind die Bürger in erster Linie in ihrer Funktion als Akteure in den Konjunkturen des nationalen Kapitalstandorts, zu der nur Eingeborene von Haus aus – brauchbare Migranten und Ausländer unter restriktiven rechtlichen Sonderbedingungen – zugelassen sind: ein echtes Privileg, das die Seinen vor allen Fremden auszeichnet. Der Kampf gegen unerwünschten Zuzug aus den Elends- und Kriegsregionen der Welt erfüllt objektiv den Tatbestand massenhafter Tötung durch Unterlassung bzw. durch ein aktives Grenzregime; auch der kommt aber ganz ohne rassistische Rechtfertigungen aus.

    Kein Rassismus von Staats wegen

    Widerspruch des Staatsbürgers

    Antirassisten

    Rassisten

    Von Versuchen der Vertreter entgegengesetzter Lesarten des gewöhnlichen Staats- und Staatsbürgeridealismus, die jeweils andere Seite zu überzeugen, ist nichts bekannt. Das halten beide Fraktionen von vornherein für aussichtslos; wohl zu Recht. Umso mehr kommt es ihnen darauf an, der Gegenseite das Wasser abzugraben, indem sie im Sinne ihrer patriotischen Moral aufs Volk einwirken; direkt agitatorisch und über die organisierte Öffentlichkeit.

    Mehr zum Thema im Heft 1/2021 der Zeitschrift Gegenstandpunkt. Im Buchhandel und beim Verlag unter https://de.gegenstandpunkt.com zu beziehen.

    Aus: junge Welt – Ausgabe vom 07.04.2021 / Seite 12 / Thema: Aus der bürgerlichen Gesellschaft

    https://www.jungewelt.de/artikel/399999.aus-der-b%C3%BCrgerlichen-gesellschaft-geglaubte-lebensl%C3%BCge.html