Suitbert Cechura: Das „Geisterschiff“ der Flüchtlingsdebatte
Von webmaster • Okt. 5th, 2020 • Kategorie: AllgemeinSuitbert Cechura: Das „Geisterschiff“ der Flüchtlingsdebatte
Von vollen Booten und anderen Sachzwängen, die angeblich zur nationalen Selbstgenügsamkeit verpflichten
Wer die Flüchtlingspolitik der deutschen Regierung kritisiert, fängt sich oft den Vorwurf ein, er sei ein weltfremder Moralist und Spinner, der die banale Tatsache übersieht, dass nicht alle Elenden dieser Welt nach Deutschland kommen können. Das Boot ist voll, heißt dann das einschlägige Schlagwort, mit dem die angeblichen Realisten deutlich machen wollen, dass die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen oder Migranten nicht geht, Deutschland bereits jetzt überfordert ist und daher solche Forderungen als illusionär oder verantwortungslos abzulehnen seien. Der zuständige Minister Horst Seehofer drückt den gleichen Sachverhalt etwas vornehmer aus:
„Es muss endlich aufhören, dass der Eindruck erweckt wird, nur wer für unbegrenzte Aufnahme ist, habe ein Herz, und wer für kluges, überlegtes Handeln, für Begrenzung und Steuerung von Migration eintritt, sei ein herzloser Unmensch. Ich kann das für die gesamte Bundesregierung sagen: Wir haben ein weites Herz, aber wir haben keine unbegrenzten Möglichkeiten, Flüchtlinge aufzunehmen. Wir haben uns für eine Aufnahme einer verantwortbaren Anzahl von besonders Schutzbedürftigen, nämlich Familien mit Kindern, entschieden.“
Horst Seehofer, Bild am Sonntag, 20.9.2020
Das mehr oder weniger volle Boot
Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg
Die treiben die Mietpreise hoch
Durch die Ausländer steigt die Kriminalität
Die untergraben unsere Moral
Fazit
Gute Argumente für ihr Deutschsein und ihre Ausländerfeindschaft finden sich offenbar nicht, sonst müssten die Kritiker sie nicht an den Haaren herbeiziehen. Ihr Vorurteil kommt auch nicht daher, dass sie regelmäßig die Arbeitsmarkt- oder Kriminalstatistik studieren oder dem Sittenverfall auf den Grund gehen. Sie wiegen sich vielmehr in der Sicherheit, dass Deutschland „ihr“ Land ist.
Ihr Traum von einer echten Volksgemeinschaft geht aber nur, wenn sie von allen bestehenden Gegensätzen und Unterschieden in der deutschen Bevölkerung absehen. Was haben die Meiers und Schmitzens denn schon mit den Aldis, Schaefflers, Quants und wie die Clans alle heißen gemeinsam? Die einen müssen zusehen, wie sie mit ihrem Einkommen durch Arbeit über die Runden kommen, während die anderen ihr Geld arbeiten lassen und in Luxus leben.
Die Gemeinsamkeit dieser ganz verschiedenen sozialen Charaktere besteht im deutschen Pass – eine Gemeinsamkeit, die durch Gesetze, also Gewalt, geregelt ist. Und das soll die positive Grundlage für eine Gemeinschaft bilden? Wo man sich ganz heimisch fühlt und im vertrauten Umgang mit Seinesgleichen ist? Verräterisch ist da ja schon das Bild von der Gemeinschaft, die sich in einem Boot auf hoher See gegen die Widrigkeiten der Natur behaupten soll – ein Bild, das auch von den wirklichen Unterschieden auf einem Schiff absieht. Denn dort befinden sich ja einige auf der Brücke und befehlen, während die übrigen an oder unter Deck rudern bzw. arbeiten müssen. Der nationalistische Gemeinschaftstraum verlangt in der Tat dem Realitätssinn einiges ab! (Suitbert Cechura)
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