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Offener Brief an die Protestierenden in Belarus

Von • Aug. 19th, 2020 • Kategorie: Allgemein

Gruppe K: Mit dem etymologischen Wörterbuch Außenpolitik getrieben.

Belarus oder Weißrussland?

 

Im Moment erfährt der neugierige Nachrichtenleser allerlei sonderbare Dinge über „die letzte Diktatur Europas“. Freilich nicht, unter welchen Bedingungen die Menschen dort ihr Leben fristen oder gegen welche Verhältnisse sie genau ihren Unmut richten. Für die deutschen Medien steht ohnehin felsenfest, dass Alex Lukaschenko weg muss. Die Finger sind gekreuzt, dass sich also dort nun auch so etwas wie ein Euromaidan (Ukraine 2014) ereignen könnte.

Man erfährt aber, dass man als gebildeter Zeitungsleser nicht mehr Weißrussland sagen darf. Bei der Tagesschau lesen wir: „Der Staat »Republik Belarus« ist landläufig als Weißrussland bekannt. Doch weder ist »Bela-« in diesem Wort mit weiß, noch ist »-rus« mit Russland zu übersetzen. Wörtlich übersetzt lautet Belarus »Westliche Rus« – eine Referenz auf das mittelalterliche slawische Großreich der Kiewer Rus“ (tagesschau online 14.8.20).

Da mag der eine oder andere die Augenbraue hochziehen, denn: Leitet sich Russland nicht auch vom „mittelalterlichen slawischen Großreich der Kiewer Rus“ ab? Warum ist das überhaupt für das Land wichtig? Na, „weil es dessen Eigenständigkeit – insbesondere vom Nachbarstaat Russland – betont“!

Eigentlich könnte man da auch auf die eingedeutschte Variante »Ruthenien« zurückgreifen, aber da kommt schon wieder die eigene Geschichte in die Quere. Denn »Generalbezirk Weißruthenien« hieß das Land zwischen 1941 bis 1944, als es von der deutschen Wehrmacht besetzt war. Die Zeit nutzten die Besatzer, um ein Viertel der gesamten Bevölkerung zu ermorden. Daran möchte die deutsche Presse nun auch wieder nicht erinnern und vielleicht noch anti-deutsche Gefühle wachrufen, gerade weil man sich ja im Moment so lauthals über verletzte Demonstranten sorgt. Die Perspektive der Belorussen oder Belorusen auf jeden Fall nicht Weißruthenen oder Weißrussen ist schließlich die EU unter deutscher Vorherrschaft!

 

Schön konstruiert, ihr Schmierfinken! Gestern: Weißrussland. Heute: Belarus. Morgen: Bela-Europa?

(tagesschau online 14.8.20)

 

https://www.facebook.com/grppk/posts/771416100276094

 

 

Wir empfehlen Euch statt Tagesschau, folgenden offenen Brief auf Telepolis:

 

Offener Brief an die Protestierenden in Belarus

Über die illusionären Erwartungen der Protestierenden.

Ein Gastbeitrag

 

Liebe Menschen in Belarus,

Verehrte Damen und Herren auf den Straßen von Minsk,

wenn wir den Bildern und Berichten des deutschen Fernsehens glauben dürfen, so befinden Sie sich seit einer Woche im Widerstand gegen den offiziell wieder gewählten Präsidenten Alexander Lukashenko.

Demonstrationen, Streiks und grausame Polizeigewalt gegen Oppositionelle gibt es offenbar an allen Orten. Unter Berufung auf die Opposition berichten Zeitungen in Deutschland, dass die Wahl in Ihrem Land weder frei noch fair verlaufen sei. Die offiziellen Wahlergebnisse sind demnach grob gefälscht, die überwältigende Mehrheit der Weißrussen sei für die Oppositionskandidatin und die „letzte Diktatur Europas“ stehe kurz vor dem Fall. Die EU und die USA unterstützen Sie dabei selbstlos.

Wir können diese Aussagen nicht überprüfen und beurteilen. Handelt es sich um die Wahrheit? Oder wird hier maßlos übertrieben, um den letzten strategischen Verbündeten Russlands in Osteuropa zu „knacken“ und die NATO weiter nach Osten auszudehnen? Stichwort: Kaliningrad und „suwalki gap“. Wir wissen es nicht.

Wir wissen auch nicht, was von den Truppenverlegungen der USA an die Westgrenze Ihres Landes zu halten ist. Gewiss ist nur: Viele Menschen in Belarus sind offenbar unzufrieden mit der Politik des Präsidenten.

Warum Sie unzufrieden sind, erfährt man in unseren Medien kaum oder viel zu wenig. Der Grund Ihrer Unzufriedenheit interessiert offenbar überhaupt nicht, solange sich die Wut der Straße nur gegen Lukashenko und „das System“ richtet. Dies könnte für Sie, liebe Bürger_innen von Belarus, ein erster Hinweis darauf sein, wie berechnend die EU Ihren „Freiheitskampf“ unterstützt und wie wenig es dabei um Ihre Interessen, um Ihre Unzufriedenheiten in Zeiten der Krise geht.

Was Sie nach einer mehr oder weniger „friedlichen Revolution“ in Belarus zu erwarten haben, das können Sie allerdings mit Gewissheit an fast allen anderen Ländern Osteuropas ausführlich studieren.

Lassen Sie sich informieren über die Abwicklung der Staatsbetriebe, Massenentlassungen, Zusammenbruch der Kolchosen und landwirtschaftlichen Betriebe, massenhafte Landflucht und das Sterben der Dörfer in der Ukraine, in der Republik Moldau, Rumänien, Polen … Vergleichen Sie den Zerfall der sozialen Infrastruktur, von Kitas, Krankenhäusern, Altenheimen und die Folgen für Lebenserwartung, Alkoholismus und Verwahrlosung …

Dafür bekommen Sie in der neuen Freiheit gewiss neue Oligarchen, die mit eigenen Fernsehsendern, Verlagen und Parteien um die Macht konkurrieren. Alle vier Jahre können Sie einen anderen wählen.

Ändern tut sich dadurch bekanntlich nichts. Die akademische Elite verlässt übrigens die Heimat und ihre Familien, um in Deutschland oder Großbritannien im Krankenhaus, in der Industrie oder IT-Branche viel zu arbeiten. Der Rest der Bevölkerung kann mit Wanderarbeitern aus Polen, der Ukraine oder Moldau darum konkurrieren, wer als Spargelstecher oder Schlachtarbeiter, Putzfrau und Prostituierte in deutschen Betrieben und Bordellen ausgebeutet und krank gemacht wird.

Lassen Sie sich auch darüber informieren, wie osteuropäische Migranten in Westeuropa wohnen, wie sie behandelt werden, wenn sie Arbeit und Wohnung verlieren, und was jene Deutschen von Ihnen halten, die gerade so viel Sympathie für ihren Freiheitskampf zeigen.

Und schließlich noch ein Wort zum Thema freie Wahlen. Da kennen wir uns nämlich leider aus: In den mustergültigen Demokratien Westeuropas gelten die folgenden Dinge als „alternativlos“ und stehen nicht zur Wahl: die Eigentumsverhältnisse mit Milliardären und Bettlern, die Arbeitslosigkeit, Arbeit, die krank und depressiv macht, die Armut und die Ausbeutung osteuropäischer Wanderarbeiter, Abschiebungen usw…

Ob sie zu diesen glücklichen Wanderarbeiter_innen künftig gehören dürfen, entscheiden übrigens auch nicht freie Wahlen in Minsk, sondern Berliner und Brüsseler Gesetze zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und die gar nicht frei gewählten Personalchefs westlicher Unternehmen. Dabei stehen nicht Ihre Bedürfnisse und Sorgen im Mittelpunkt, sondern der Bedarf großer Kapitale an billigen und willigen Arbeitern. Dieser Bedarf dürfte in Zeiten der Krise übrigens absehbar gedeckt sein …

Dass Sie nach einem besseren Leben streben, glauben wir Ihnen und finden wir verständlich. Dass diese freien Wahlen Ihnen dabei nützen werden, darf allerdings bezweifelt werden. Gewiss ist: Die Freiheit, für die Sie gerade kämpfen, wird nicht Ihre Freiheit sein. Denn in westlichen Demokratien können Sie keinesfalls wählen, ob Sie Ihren Arbeitsplatz behalten oder verlieren, ob es eine neue Krise gibt oder eine Konjunktur, wie viel das Geld eert ist , das Sie mit Ihrer Arbeit verdienen, wie sehr die Mieten steigen und so weiter. All das diktiert bekanntlich „der Markt“ bzw. die Konkurrenz der Unternehmen, Banken und Spekulanten.

In freien Wahlen nach westlichem Vorbild können Sie auch nicht entscheiden, ob sie lieber mit 63 oder 67 Jahren in Rente gehen wollen und ob Sie von dieser Rente überhaupt leben können. Sie können nicht einmal darüber abstimmen, ob Sie einen neuen Krieg mit Russland wollen oder lieber nicht. All das entscheiden frei gewählte Politiker „alternativlos“ für ihr Volk.

Fordern Sie deshalb nicht freie Wahlen nach westlichem Vorbild. Folgen Sie nicht prowestlichen Oppositionskandidaten. Lassen Sie sich nicht vor den Karren der NATO spannen! Lassen Sie sich nicht von frei gewählten Politikern und kapitalistischen Konzernen Ihre Lebensbedingungen diktieren! Diese werden darüber nicht besser.

Erobern Sie nicht Parlamentssitze und Präsidentenpaläste. Wenn Sie dem Schicksal der Lohnabhängigen in anderen Ländern Osteuropas entgehen wollen – erobern Sie die demokratische Verfügungsgewalt der arbeitenden Klassen über die ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen in Ihrem Land. Bilden Sie Räte!

 

Mit den besten Grüßen,

Oppositionelle aus dem Ruhrgebiet (gez. Armin Fischer)

 

https://www.heise.de/tp/features/Offener-Brief-an-die-Protestierenden-in-Belarus-4872348.html

 

 

Artikel auf Russisch (Oppositionelle aus dem Ruhrgebiet)

https://www.heise.de/tp/features/telepolis_artikel_4872499.html

2 Responses »

  1. An English version can be found here.

  2. Ein Kommentar zum o.a. Offenen Brief:

    Verbesserte russische Übersetzung

    Die russische Übersetzung von DeepL ist schwer verständlich. Es folgt eine anständige Übersetzung, die der Autor gern übernehmen kann.

    https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare//verbesserte-russische-Uebersetzung/posting-37244867/show/