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Theo Wentzke: Abstiegsängste

Von • Sep. 16th, 2016 • Kategorie: Allgemein

Theo Wentzke: Abstiegsängste

 

»Industrie 4.0« wird nicht nur Arbeitsplätze kosten. Es ist der staatlich orchestrierte Versuch, Gewinne zu sichern und den »Standort Deutschland« vor der Degradierung zur Werkbank zu bewahren

Von Theo Wentzke

 

Unter dem Titel »Industrie 4.0« wird eine Zeitenwende verkündet, die dem Namen nach nur die Industrie betrifft, aber in der Sache die ganze Art und Weise verändern soll, wie in Zukunft produziert und konsumiert wird. Diese neue Welt lernt der Zeitungsleser vor allem als eine bunte Ansammlung von Stichworten kennen, die von »intelligenter Fabrik« über »Internet der Dinge« bis hin zu »Big Data« reicht und aus der die umfassende Bezeichnung »Digitalisierung aller Lebensbereiche« herausragt.

Einerseits wartet die neue digitale Ära mit lauter Verheißungen auf.

Das gilt insbesondere für Arbeit, die sich künftig in »intelligenten Fabriken« abspielen wird, in der die »physikalische und die virtuelle Welt« zu »cyber-physikalischen Systemen« verbunden werden. Automaten werden immer mehr Tätigkeiten übernehmen – gerade der »körperlich schweren oder stumpfsinnigen« Art; Maschinen werden aus ihren Schutzkäfigen entlassen und mit ihren menschlichen Mitarbeitern Seit’ an Seit’, zunehmend sogar Hand in Hand, ihr Werk verrichten. Doch das ist nur die eine Seite der »neuen Welt« der Digitalisierung. Es handelt sich dabei nämlich um »Chancen«, und von denen weiß der moderne Mensch allzu gut, dass sie stets mit besorgniserregenden »Risiken« einhergehen. Auch das gilt vor allem für die Arbeitswelt. Denn wenn Roboter in weitgehend »menschenleeren Fabriken« immer mehr Tätigkeiten übernehmen, dann stehen womöglich immer mehr Beschäftigte erwerbslos auf der Straße.

Und weil in der Marktwirtschaft das kreuzvernünftige Prinzip gilt, dass Arbeit nicht der nötige Aufwand ist, bei dem man froh ist, wenn er weniger wird, sondern die Einkommensquelle, von der der Großteil der Menschheit abhängt, ist die Vision von »menschenleeren Fabriken« eben nicht nur Verheißung, sondern auch »Horrorvision« (Arbeitsministerin Nahles). Und so wird der große digitale Sprung nach vorne zu einem weiteren Fall von »Fluch versus Segen« für die Menschheit.

Doch diesen potentiellen Wegfall von Arbeitsplätzen und die damit fortschreitende Verarmung als ein ungewolltes Nebenprodukt oder als »Schattenseite« der anrollenden Automatisierungswelle zu besprechen, ist ignorant. Denn es ist der Sinn der Sache, wenn Unternehmer ihre Produktionsprozesse derart digital aufrüsten, dass sie weitgehend autonom und automatisch abgewickelt werden können. Der damit erzielte Fortschritt besteht nicht darin, dass dann für Arbeiter immer weniger Aufwand anfällt, sondern darin, dass für Unternehmer der notwendige Einsatz von Geld für Arbeitskraft verringert wird. So sparen sie sich die Lohnkosten für den Lebensunterhalt der Beschäftigten, die nicht mehr gebraucht werden. Das ist in der Tat ein großer Fortschritt für Kapitaleigner, die zwar alle möglichen Gebrauchswerte herstellen, aber das alles nur als Träger für ihr eigentliches Produkt: den Überschuss an Geld über ihren Vorschuss. Gemäß der Vernunft, die die Marktwirtschaft regiert, heißt diese Effektivierung der Arbeit »Rationalisierung« – und sie verschafft den Unternehmen das wichtigste Mittel, ihre Preise zu senken und sich so in der Konkurrenz um Marktanteile zu bewähren. Das Stichwort »menschenleere Fabrik« macht deutlich, wie weit die Unternehmer diese Ratio nun voranzutreiben gedenken: Nicht nur die Arbeit soll fast gänzlich von Robotern ausgeführt werden, auch Entscheidungen im Produktionsverlauf sowie dessen Kontrolle können mehr und mehr von – entsprechend programmierten – Automaten übernommen werden. Neben der Einsparung an bezahltem Personal sorgt die fortschreitende Verringerung des Anteils menschlicher Arbeitskraft für eine erhebliche Verkürzung der Produktionszeit. Auch das ist ein Fortschritt für den kapitalbesitzenden Auftraggeber, für den bekanntlich Zeit auch Geld ist und für den deswegen jede überflüssige Minute, die während der Produktion verstreicht, eine zuviel ist. So lange bleibt nämlich ihr investiertes Kapital gebunden, statt wieder für die Fortsetzung und Erweiterung des Geschäfts zur Verfügung zu stehen – ein eindeutiger Widerspruch zum Zweck, für den das ganze Unternehmen überhaupt in Gang gesetzt wird. Was dieses Gebot der Beschleunigung für die Arbeiter bedeutet, die noch gebraucht werden, liegt auf der Hand: Sie müssen mit-, also das neue Tempo aushalten.

Jobvernichtung, Jobschaffung

Das Geschäft mit »Big Data«

Konkurrenz der Kapitalgruppen

Eine Staatsangelegenheit

 

 

Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 22.7. über den niederländischen Demagogen Geert Wilders. Wentzke ist Redakteur der Zeitschrift Gegenstandpunkt. Mehr über »Industrie 4.0« ist in diesem Periodikum in der Nummer 2/2016 nachzulesen.

 

Aus: junge Welt – Ausgabe vom 01.09.2016 / Seite 12 / Thema

 

http://www.jungewelt.de/2016/09-01/060.php

 

http://www.gegenstandpunkt.com/gs/2016/2/inhalt20162.html

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