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Kritik an Ideologien, Aufklärung über populäre Irrtümer, Kommentare zum Zeitgeschehen

2 Interviews mit Freerk Huisken

Von • Apr. 15th, 2013 • Kategorie: Allgemein

Zwei Interviews des Blogs „Publikumsbeschimpfung“ mit Freerk Huisken.

 

1. „Was die Schule alles leistet“

PB:

Wenn von Schule die Rede ist, gilt: Der Umstand, dass der Staat eine Institution einrichtet, an der Kinder und Jugendliche neun bis zwölf Jahre kostenlosen Unterricht erhalten können und bis zum Ablauf der Schulpflicht auch müssen, ist eine Dienstleistung am Menschen, die nicht nur zu Dankbarkeit verpflichtet, sondern auch den Anspruch auf eine Gegenleistung geltend macht: Leistungsbereitschaft, Fleiß und Disziplin sollen in Denken und Handeln der Schüler verankert werden, damit sie das “hohe Gut der Bildung” auch zu schätzen lernen – “andere haben nämlich gar nicht die Möglichkeit, in diesen Genuss zu kommen”, hört man unter anderem als Begründung dafür. Woher rührt das Konzept vom “Dienst am Menschen” und wie ist es zu beurteilen?

FH:

Diese Rede nimmt Maß an dem vorbürgerlichen Schulwesen, in welchem es zum einen kein allgemeines Recht auf Bildung gab und zum anderen dem Nachwuchs aller gehobenen Stände garantiert war, per Bildung wieder in den Verhältnissen das Leben zu verbringen, denen er entstammte. Über das Messen an diesen vergangenen Bildungsverhältnissen wird ein wenig vergessen, welchen “Dienst” die demokratische Schule “am Menschen” heute leistet. Dass das Recht auf Bildung nicht abgelehnt werden kann, weil es gleich als Schulpflicht daherkommt, sollte stutzig machen. Denn verpflichtet werden Menschen von staatlichen Institutionen doch immer nur dann, wenn die “den Menschen” für sich einspannen wollen. Wenn das Recht auf Bildung die geistige Wohltat für alle wäre, müsste die Schule niemanden zum Besuch verpflichten.

PB:

Für gewöhnlich sind Kinder vor ihrer Einschulung äußerst neugierig, aufgeweckt und lernfreudig, in den Jahren ihrer schulischen Sozialisierung aber werden viele zu lernmüden und schulfeindlichen Menschen, die in Hausaufgaben, Tests, Referaten und Klausuren selten Gegenstände des Lernvergnügens sehen. Vielmehr wird regelmäßig Unbehagen über die damit einhergehende Belastung geäußert. Dennoch sehen Schüler darin “notwendige Übel” mit “persönlichem Nutzen” für die Zukunft. Leistung will schließlich belohnt werden.

Ist das nicht seltsam?

 

FH:

In der Tat – und das löst ein wenig schon das Rätsel von oben auf:

Wenn in der hiesigen Regelschule all das, was da in den Unterrichtsfächern gelernt werden soll – und über die Tauglichkeit des Unterrichtsstoffs für ein Begreifen von Natur- und Gesellschaftsvorgängen will ich noch gar nichts sagen – zugleich das Material für die Notenvergabe ist, dann darf man sich über die bei so vielen Schülern bald eintretende Lernunlust nicht wundern.

Denn Noten sollen gar nicht Lehrer und Schüler informieren über schon Begriffenes und Lerndefizite, um letztere dann auszuräumen.

Noten fixieren Leistungsunterschiede zwischen Schülern und exekutieren die bei der Entscheidung über zukünftige Schulkarrieren.

Mit dem paradoxen Ergebnis, dass diejenigen Schüler, denen das Zeugnis die größten Defizite bescheinigt, in Restschulen abgeschoben werden, in denen von weiterem Lernen kaum noch die Rede sein kann.

 

PB:

Was & wozu taugt die Note – bestimmt sie doch offensichtlich den Schul- und Lernalltag sämtlicher Schüler und Schülerinnen, beziehen sich sämtliche Wertungen darauf?

 

FH:

Letztlich lässt sich die Funktion der Notengebung so zusammenfassen:

Mit der Herstellung von Lernleistungsunterschieden wird der Nachwuchs zunächst nach bildungspolitischen Vorgaben auf die Schulformen verteilt: Nach wie vor wird dabei eine knappe Mehrheit von weiterführender Bildung ausgeschlossen. Diese innerschulische Sortierung ist zugleich eine Vorsortierung für die Hierarchie der Berufe, in denen alle Schulabsolventen später ihre “Brötchen” verdienen müssen. Die Mehrzahl in Jobs, in denen schwere Arbeit mit geringem Verdienst entgolten wird. Eine Minderheit in den Jobs der Elite, in denen umgekehrt mit leichterer Arbeit mehr verdient wird.

 

PB:

Nach welchen Kriterien werden diese bildungspolitischen Vorgaben gestaltet?

 

FH:

Die Bildungspolitik muss drei Kriterien unter einen Hut bringen: ein marktpolitisches, ein standortpolitisches und ein finanzpolitisches.

D.h. keine Reform nimmt Maß an Wünschen von Schülern und deren Eltern. Jede Reform des Bildungswesens nimmt vielmehr Maß an rein nationalen Gesichtspunkten, also an der differenzierten Nachfrage nach Ausgebildeten auf dem Arbeitsmarkt, berücksichtigt dabei die Entwicklung des Bildungswesens konkurrierender Nationalstaaten und weiß sich den Finanzminister im Rücken, der darauf drängt, dass die Reform “finanzierbar” bleibt. Dabei können sich diese Kriterien ergänzen, aber durchaus auch mal in die Quere kommen. Wenn der Beschluss steht, dass “wir” mehr Abiturienten brauchen, um in Europa hinsichtlich der Ressource “geistiges Kapital” nicht in Rückstand zu geraten, dann braucht es mehr Gymnasien nebst ihrer sachlichen und personellen Ausstattung. Gespart wird dann z.B. daran, dass die Schüler-Lehrerquote erhöht wird, Lehrer nur als Angestellte bezahlt werden oder Geld für Schulmaterial verlangt wird. Beschließt die Politik, wegen des schlechten internationalen Abschneidens im PISA-Vergleich von Schülern mehr Leistung zu verlangen, dann verkürzt sie z.B. die Ausbildungsgänge, fängt mit der Verschulung früher an und packt mehr Stoff in kürzere Zeit – was dann zugleich ein Beitrag zum Sparprogrammsein kann. Weitere bildungsinterne Stellschrauben sind die Festlegung von Übergangsquoten, die Zusammenlegung von Schulen, der Numerus Clausus, Verschärfung von Prüfungen, Fördermaßnahmen bzw. deren Beendigung usw. So benutzen die Bildungspolitiker aller Bundesländer das gesamte Bildungswesen, um mit seinem permanenten Umbau dafür zu sorgen, das mit dem sortierten Nachwuchs möglichst passend all jene ökonomischen und politischen Einrichtungen bedient werden, mit denen Deutschland sein Wachstum voranbringen und sich in der Welt behaupten will.

 

PB:

In Bezug auf Noten wird auch viel gemeckert: Schüler über die Schwierigkeiten dabei, an eine “gute Note” zu gelangen, also Erfolg vermelden zu können ; Lehrer über die Fixierung ihrer Schüler auf die von ihnen herausgegebenen Zensuren, worunter der Wille, “Substanzielles zu lernen”, leiden soll ; werden Jahrgänge miteinander verglichen, meldet sich auch mal die Schulleitung zu Wort, wenn Schüler nicht begreifen wollen, dass der “Ernst des Lebens” längst angefangen hat. Bei all dem scheint von konkreten Lerninhalten wenig übrigzubleiben.

 

FH:

Einerseits würde ich dem zustimmen. Ja, der konkrete Stoff wird allzu oft nach dem Test oder Klassenarbeit wieder vergessen. Andererseits muss man aber zur Kenntnis nehmen, dass der Unterrichtsstoff nicht alles ist, was man in der Schule lernt. Da gibt es noch mehr: Man lernt, dass sich Leistung nicht etwa lohnt, wenn man gut gelernt und viel begriffen hat, sondern nur, wenn man beim Lernen besser als andere Mitschüler war, diese zu Schulverlierern gemacht hat. Aber genau das hat man gar nicht in der Hand. Denn die Note misst gar nicht die individuelle Lernleistung – das geht auch gar nicht -, sondern die individuelle Leistung immer nur im Verhältnis zur Leistung der Gesamtheit der beurteilten Schüler. Man lernt überdies, dass man in der Kritik an Noten allein den Maßstab der Gerechtigkeit anlegen soll. Auch ein Lernergebnis, das ebenso ärgerlich ist wie es zur Schule und zum späteren Leben passend ist: Kritisiert wird da immer nur das Verfahren bei der Notenfindung, nie aber der Zweck der Noten – wie ich ihn vorgestellt habe. Der ist bei jeder Kritik an ungerechten Noten abgehakt!

 

PB:

Die schulische Selektion wird gerne begründet durch „unterschiedlich hohe Intelligenz“, unterschiedlicher Begabung und individuellen Leistungsansprüchen, die ungleiche Resultate notwendig machten.

 

FH:

Die mit der Notenvergabe hergestellte Hierarchie von Schülern ist das Produkt der Schule und der Vollstrecker ihres bildungspolitischen Auftrags ist der Lehrer. Mit Intelligenz und Begabung hat das alles nichts zu tun. Das ist bereits dem Verfahren zu entnehmen, das den Unterricht bestimmt. Das Lernen ist als Leistungslernen organisiert, d.h. alle Schüler haben sich am gleichen Stoff unter gleichen Lernbedingungen in gleicher Zeit aneinander zu messen. Dabei ist die Zeit immer knapp bemessen, was bedeutet, das langsame Lerner regelmäßig auf der Strecke bleiben. Wenn jedem die Zeit zum Lernen und Begreifen eingeräumt würde, die er individuell braucht – vorausgesetzt er will auch lernen -, dann gäbe es diese Unterschiede nicht. Anders gesagt: Der Lehrer hört mit der Unterrichtung eines bestimmten Stoffpensums auf und setzt die Klassenarbeit an, obwohl bzw. weil er genau weiß, dass allenfalls die Hälfte der Schüler etwas begriffen hat. Und das ist sein Job: Die Verteilung der Schüler auf die Notenhierarchie von 1 bis sechs; und nur so geht sie.

 

PB:

Andererseits wird auch schon mal geäußert, dass “wir“ „gute Handwerker“ benötigten und dass Hauptschüler mehr “praktisch begabt” seien. Das klingt widersprüchlich, verweist es doch auf die spätere Berufsfunktion als Sortierungsgrund.

 

FH:

Ist es aber nicht. Denn so wird nun einmal das hiesige Schul- und Wirtschaftssystem als gerecht, weil menschengemäß vorgestellt.

Letztlich, heißt diese freche Lüge, bekäme jeder, was ihm gemäß seiner Anlagen zusteht, die die Schule im Leistungsvergleich ermittelt habe. Dabei würde ich es gar nicht zurückweisen wollen, dass eine Gesellschaft “gute Handwerker” braucht. Die Gemeinheit dieser Legitimation besteht jedoch darin, dass es gar nicht um den “guten Handwerker”, also um den Inhalt seiner Arbeit geht, sondern um seine Stellung in der Berufshierarchie, mithin vor allem um seinen Verdienst. Wie selbstverständlich wird es als gerecht unterstellt, dass Menschen, die handwerklich tätig sind, weniger verdienen als Menschen, die unfreundliche Gesetze beschließen, die Soldaten nach Afghanistan schicken, Leute entlassen oder Schülern ihre Beamtenmacht demonstrieren.

 

PB:

Apropos Beamtenmacht. Mit dem Beruf des Lehrers wird oft ein Ethos verbunden, das sicherlich für die Entscheidung einiger, solche zu werden, ausschlaggebend ist. Was ist über die Motivation und Selbstwahrnehmung solcher Lehrer*innen zu sagen?

 

FH:

Das mit dem Ethos sollte man nicht zu hoch hängen. Es handelt sich, wo es noch existiert, weniger um ein fest gefügtes Berufsbild als vielmehr um die Legitimation einer Berufsentscheidung, die weniger “wertebewusst” ausfällt. Es gilt eben der Beruf heute gesellschaftlich weniger – vergleiche die Rede von Ex-Kanzler Schröder über die “faulen Säcke” -, wird durch Bachelor weiter abgewertet und kommt dadurch ins Gerede, dass es vor allem Lehrer sind, die sich mit “Burnout-Syndrom” Auszeiten nehmen. Letzteres sollte man weder bestreiten noch zum Anlass nehmen, dem Lehrerberuf neue Hochachtung entgegen zu bringen. Leiden unter und in einem Beruf adelt diesen nicht. Auch Manager, die Tag für Tag darüber nachdenken, wie sie mehr Gewinn aus der Belegschaft herausholen können, erleiden schon mal einen Herzinfarkt.

 

PB:

Im Rückentext zu deinem Buch “Erziehung im Kapitalismus” heißt es:

„Praktisch ist Erziehung eine klare Sache. Früher brachte sie den preußischen Untertanen, heute den aufgeklärten Wähler und mündigen Steuerzahler hervor. Schulbeamte verfügen zu diesem Zweck über Erziehungsgewalt, nachdem sie einen Eid abgelegt haben. Früher auf den Kaiser, danach auf den Führer, jetzt auf die Verfassung.”

Das impliziert eine Kontinuität. Es ist doch aber ein nicht geringer Unterschied, ob ich einem monarchischen, einem faschistischen Führer oder einer demokratischen Verfassung die Treue schwöre.

 

FH:

Das ist zutreffend. Deswegen habe ich ja auch nicht nur auf den Treueeid verwiesen, sondern zugleich auf den unterschiedlichen Gehalt der Lehrerarbeit, auf den die Lehrer jeweils verpflichtet wurden und werden. Und da besteht zwischen dem preußischen Untertanen von damals und dem mündigen Staatsbürger von heute schon ein nicht zu unterschätzender Unterschied, auf den es der Schulpolitik in der Demokratie sehr ankommt. Schüler werden hier in persönlicher Abhängigkeit von Lehrern – und Eltern – bis zum 18. Lebensjahr zur persönlichen Reife erzogen, d.h. ihnen wird vorgeschrieben, was sie zu tun und zu lassen haben. Erst dann, so meint die Schulpolitik, könne man den Heranwachsenden vollständig zutrauen, dass sie sich selbständig den Regeln von Marktwirtschaft und demokratischem Herrschaftssystem auch dann anbequemen, wenn ihnen nicht gerade die Karriere vom “Tellerwäscher bis zum Millionär” eröffnet wird.

Kurz, dass sie von sich aus wollen, was sie sollen, was diese Gesellschaft ihnen beim Geldverdienen abverlangt. Nichts anderes als das ist Mündigkeit: Ohne den Vormund in Gestalt von Eltern und Lehrern funktionierendes Glied der Gesellschaft zu sein – und zwar überall dort, wo ihn die Schul- und die Arbeitsmarktkonkurrenz ablädt.

 

Von Freerk Huisken sind zum Thema Bildung und Pädagogik noch erschienen:

Der “PISA-Schock” und seine Bewältigung – Wieviel Dummheit braucht / verträgt die Republik? ; Über die Unregierbarkeit des Schulvolks – Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw. ;

z.B. Erfurt – Was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungswesen so alles anrichtet und

Erziehung im Kapitalismus – Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten (im VSA-Verlag).

 

http://publikumsbeschimpfung.wordpress.com/2013/02/25/was-die-schule-alles-leistet/

 

 

2. „Rassismus in der bürgerlichen Gesellschaft – (k)eine Notwendigkeit?“

 

PB:

Wenn in Deutschland neonazistische Gruppierungen mordend durch die Lande ziehen, zeigt sich die politische und mediale Öffentlichkeit empört und empfindet Scham. Auch der Umstand, dass seit der Wiedervereinigung mehr als 150 Menschen mit Migrationshintergrund Opfer rechtsradikaler Gewalt wurden und darin den Tod fanden, scheint Anlass dafür zu sein, an die Wichtigkeit hiesiger demokratischer Werteordnung zu appellieren.

 

FH:

Das ist schon etwas merkwürdig, denn bei diesen Nazis handelt es sich ja nicht um Altnazis, sondern um Neonazis, die in der Demokratie groß geworden sind, in ihr zehn oder mehr Jahre Schule absolviert und sich nach der Schule in den Alltag dieser Gesellschaft integriert haben.

Deswegen stellt sich die Frage, wie sich in der Demokratie diese Gesinnung herausbilden kann, wie es sich erklären lässt, dass demokratisch-sozialisierte Bürger eine faschistische Einstellung entwickeln und gelegentlich sogar brutal praktizieren. Diese Fragen werden in der Öffentlichkeit selten oder gar nicht gestellt.

 

PB:

Gleichzeitig finden Debatten über eine „korrekte Einwanderungspolitik“, über Integration und darüber statt, welche Ausländer man denn in Deutschland haben wolle und welche nicht, werden Flüchtlinge in ihrem staatlich geregelten Freiraum eingeschränkt und in ihre Ursprungsländer abgeschoben, sterben Tausende auf dem Weg ins „europäische Paradies“ im Mittelmeer, baut die Europäische Union ihren militärisch gesicherten Grenzschutz aus.

 

FH:

Genau, das scheint mir eine wichtige Feststellung zu sein: Die regierenden Demokraten, und zwar quer durch alle Parteien, praktizieren ja eine Ausländerpolitik, die von vornherein zwischen Inländern und Ausländern nicht nur formell, sondern nach einem sehr prinzipiellen und ausgrenzenden nationalen Standpunkt sortiert.

Ausländer, so wird es allen Bürgern vermittelt, gehören erst einmal nicht “zu uns”. Nur wenn sie Deutschland ökonomisch nützen, dann dürfen sie – in der Regel – zeitlich begrenzt und minder berechtigt hier Dienste verrichten. Ausländer, die vor Verfolgung und Krieg, Vertreibung und Hungerkatastrophen hierher flüchten, haben dagegen hier nichts zu suchen. Das ist der Kern demokratischer Ausländerpolitik und die ist für die weitverbreitete Ausländerfeindlichkeit deutscher Bürger verantwortlich.

 

PB:

Wie passt diese Fremdenfeindlichkeit, die gelegentlich auf brutale Höhepunkte treibt, zusammen mit einer Gesellschaft, in der es den Faschismus seit 67 Jahren nicht mehr gibt?

 

FH:

Man muss sich einmal klar machen, dass die westdeutsche Nachkriegsdemokratie vom Nationalsozialismus ja so einiges übernommen hat: Den Antikommunismus, die kapitalistische Wirtschaftsform, die nationalstaatliche Organisation und – neben weiterem – auch das Ausländergesetz, dessen Wurzeln bis in die Weimarer Republik reichen.

Die Inländer- Ausländersortierung gibt es immer dort, wo Nationalstaaten sich territorial gegen andere absetzen und ihr Territorium gegen konkurrierende Staaten gewaltsam abgrenzen. Deswegen ist es auch keine Erfindung von Demokraten, wenn sie Ausländer ganz generell verdächtigen, als “Diener fremder Herren” einzuwandern, es also an Loyalität gegenüber Deutschland fehlen zu lassen. Die Nationalsozialisten haben diesen Verdacht radikalisiert und auch im deutschen Volk ganz viel “undeutsche Elemente” entdeckt. Welche, das weiß man, und wie sie mit denen umgegangen sind, weiß man auch.

 

PB:

Ist Xenophobie eine Folge mangelnder Bildung, Aufklärung und Vermittlung demokratischer Werte?

 

FH:

Diese Frage ist mit meinen vorangegangenen Antworten geklärt:

Fremdenfeindlichkeit ist natürlich nicht angeboren, wie das die Xenophobie-Theorie behauptet. Das ist z.B. an jüngeren Kindern zu beobachten, die völlig selbstverständlich mit Kindern aller Länder, Sprachen und Hautfarben spielen – bis sie dann von Erwachsenen darauf aufmerksam gemacht werden, dass man “mit denen” nicht spielt. Sie basiert auch nicht auf einem Mangel an Vermittlung demokratischer Werte, sondern ist deren Folge. Auch wenn in der Schule zur Toleranz erzogen wird: Denn Toleranz ist ja Duldung und nicht mehr. Und Duldung von Fremden setzt schon immer voraus, dass Gegensätze zwischen Duldern und Geduldeten existieren. Nur – und mehr ist Toleranz nicht – sollen diese Gegensätze von den Bürgern nicht ausgetragen werden. Das sollen sie den Regierungen überlassen.

 

PB:

Was ist vom Klischee des „dummen Nazis“ zu halten?

 

FH:

Das ist bequem und dumm. Denn alte wie neue Nazis sind nicht dümmer oder schlauer als der Rest des Staatsvolkes. Wie sollten auch nach 1945 Millionen von Anhängern der Faschisten über Nacht, d.h. mit der Einführung der Demokratie, schlau geworden sein? Faschisten sind von der Demokratie enttäuschte Nationalisten, die im Unterschied zu den demokratischen Bürgern ihren Nationalismus radikalisieren, in demokratischen Regierungen Verräter an Deutschland entdecken und – vor allem – gegen deren Ausländerpolitik vorgehen. An der passt ihnen die am ökonomischen Nutzen relativierte Ausländerfeindlichkeit nicht.

 

PB:

Aber nun kritisieren doch regierende und opponierende Demokraten die Faschisten. Worin besteht denn ihre Kritik?

 

FH:

Eins kann man ausschließen. Die faschistische Gesinnung und ihre Grundlage, den Nationalismus, kritisieren sie nicht. Denn auf Bürger, die hinter ihnen stehen und zwar auch dann, wenn demokratische Politik ihnen das Leben schwer macht, kommt es ihnen sehr an; ja, auf solche sind sie angewiesen. Denn ohne ein loyales Staatsvolk, lässt sich aus Land und Leuten kein Wachstum herausholen. Die “Kritik” der Demokraten an den neuen Faschisten besteht vielmehr im Ausgrenzen, in moralischer Ächtung, in Verfolgung, im Bestrafen und Wegsperren, in Verboten von Parteien und Kameradschaften und Verbotsanträgen.

Wollten Demokraten den neuen Faschismus – der im übrigen nicht nur in der NPD, sondern in vielen Bürgerköpfen existiert – tatsächlich bekämpfen, müssten sie an der Gesinnung ansetzen, also den Nationalismus angreifen. Aber der ist ja auch die Grundlage ihrer eigenen Herrschaft.

 

PB:

Lässt sich nicht eine Unterscheidung machen zwischen Patriotismus und Nationalismus?

 

FH:

Und worin soll der Unterschied bestehen? Der angeblich harmlose Patriotismus, “die Liebe zu den Meinen” – wie ein norddeutscher Politiker mal gesagt hat -, enthält dieselbe Ausgrenzung, die allein dem bösen Nationalismus, dem “Hass auf die Fremden”, zukommen soll. Abgesehen davon, dass es schon schwer fallen sollte, allen Menschen – den Lehrern, BILD-Redakteuren, Vermietern, Richtern, Unternehmern, Politikern, Generälen usw. – nur deswegen mit Zuneigung zu begegnen, weil sie auch Deutsche sind , soll sich bekanntlich die “Liebe zu den Meinen” gerade dann bewähren, wenn “Fremde” übergriffig werden. Außerdem muss sich Nationalismus – diese grundlose Parteilichkeit für das Land, zu dessen Bürger man gemacht worden ist – nicht immer in “Hass” äußern. Bekanntlich bestand die letzte nationalistische deutsche Großorgie in einem Fußball-”Fest”, in dem Deutsche mit Schwarz-Rot-Gold demonstrieren sollten, dass sie ausländische Fußballanhänger nicht nur zusammenschlagen, sondern ihnen auch mal ein Bier spendieren können – besonders wenn deutsche Kicker gegen die fremden erfolgreich waren.

 

PB:

Was ist mit demokratischen Parteien, die sich von einer „deutschen Leitkultur“ distanzieren und stattdessen das Ideal einer „multikulturellen Gesellschaft“ zu ihrem politischen Selbstverständnis erklären?

 

FH:

Wer soll denn das sein? Dieses Ideal ist inzwischen begraben, wo sich alle Parteien irgendwie darauf geeinigt haben, dass “wir” ein Ausländerproblem haben. Im übrigen war die Vorstellung von der „multikulturellen Gesellschaft“ auch nur eine – grüne – Variante des nationalistischen Nützlichkeitsgedankens: Es muss doch nicht immer nur die Ökonomie sein, in der Ausländer Deutschland bereichern; es kann doch auch die Kultur sein, hieß es einst.

Ausländer, die nur arm, vertrieben und in Existenznot sind, die Deutschland weder so noch so bereichern, fallen auch bei diesem Konzept durch.

 

PB:

Vor einigen Monaten wurden in deutschen Polizeibehörden Kalender mit rassistischen Anspielungen gefunden, in denen sich beispielsweise über die „Sprachdebilität“ schwarzer Einwanderer lustig gemacht wurde. Auch hat das Verwaltungsgericht Koblenz in einem Urteil vom Februar 2012 das sogenannte „Racial Profiling“, das bewusste Durchsuchen von Menschen aufgrund „fremdartigen Aussehens“ durch die Polizei in Recht gesetzt. Haben Teile des deutschen Beamtentums den schulischen Sozialkundeunterricht reihenweise geschwänzt?

 

FH:

Wenn sich herausstellt, dass ca. 60% der Deutschen auf die eine oder andere Weise ausländerfeindlich bis rassistisch sind, wieso sollte sich dann diese Gesinnung ausgerechnet bei denen nicht finden lassen, deren Beruf und Verpflichtung es ist, Deutschland in Ordnung zu halten.

 

PB:

Einer 2010 im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten Studie nach äußerte mehr als die Hälfte der Befragten deutschen Staatsbürger offen fremdenfeindliche Positionen. In Ostdeutschland schlossen sich mehr als 75 Prozent der Forderung an, die Religionsausübung für Muslime erheblich einzuschränken ; mehr als 30 Prozent stimmten der Aussage zu, Deutschland wäre durch zu viele Ausländer „in einem gefährlichen Ausmaß überfremdet“ ; 40 Prozent wünschten sich „Mut zu einem starken Nationalgefühl“ ; jeder vierte Deutsche sprach sich für eine starke Partei aus, die die „Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“, jeder zehnte für einen „Führer, der Deutschland zum Wohle aller mit harter Hand regiert.“ – dennoch würde ein Bruchteil dieser den Faschismus preisen oder die NPD wählen. Wie kommt das?

 

FH:

In der Tat scheint das ein Paradox zu sein: Ein verbreitete rechtsradikale Gesinnung und nur 1,8% Zustimmung zur NPD bei der letzten Bundestagswahl 2009. Im übrigen handelt es sich bei den genannten Bürgern auch nicht nur um Nichtwähler. Deutsche Bürger mit Fremdenfeindschaft im Kopf wissen sich doch auch von den meisten demokratischen Parteien gut bedient. Wenn sie die NPD nicht wählen, dann also nicht deswegen nicht, weil sie heftige politische Differenzen mit der Programmatik dieser Partei hätten. Nein, sie haben sich die politische Ausgrenzung und Ächtung der Neofaschisten zu eigen gemacht, mit der sie nach 1945 bis heute von regierenden und erziehenden Demokraten konfrontiert worden sind. Gedacht wird so:

“Das würde doch glatt wieder ein schlechtes Bild auf Deutschland werfen, wenn ‘die’ wieder stark werden! ” Es handelt sich um eine Wahlentscheidung für das gute Ansehen Deutschlands in der Welt, sprich: um eine patriotische Wahlentscheidung.

 

Von Freerk Huisken sind zum Thema noch erschienen:

Alles bewältigt, nichts begriffen! – Nationalsozialismus im Unterricht ;

Der demokratische Schoß ist fruchtbar … Das Elend der Kritik am (Neo-)Faschismus und

Deutsche Lehren aus Rostock und Mölln – Nichts als Nationalismus (im VSA-Verlag).

 

http://publikumsbeschimpfung.wordpress.com/2013/04/15/rassismus-in-der-burgerlichen-gesellschaft-keine-notwendigkeit/

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