Theo Wentzke: Unlösbarer Widerspruch
Von webmaster • Dez. 14th, 2024 • Kategorie: AllgemeinUnlösbarer Widerspruch
Die Regierung Lula will internationales Kapital anlocken und zugleich die eigene Wirtschaft breiter aufstellen. Über die Bemühungen zur Entwicklung der brasilianischen Ökonomie
Von Theo Wentzke
Wenn sich die internationale Investorenmafia in der Welt nach Anlagemöglichkeiten für ihr Geldkapital umschaut und die dabei behilflichen Berater einschlägige Tipps geben, taucht regelmäßig Brasilien als interessantes Ziel für Geldvermehrung auf. Ganz selbstverständlich messen sie das Land an ihren Maßstäben, zum Beispiel an den »Chancen und Risiken«, die es für ihre Spekulation zu bieten hat, und kommen zu einem zwiespältigen Urteil:
Einerseits entdecken sie in der »neuntgrößten Volkswirtschaft der Welt« (Stand 2023, da hat es mit der Größe seines BIP gerade Kanada überholt) »viel Potential« in Gestalt eines »großen Binnenmarkts mit über 212 Millionen Einwohnern«, »einer diversifizierten Industrie«, eines immensen »Rohstoffreichtums« usw.
Andererseits konstatieren sie eine »dramatische Verschuldungsdynamik des Staates«, fassen das Risiko eines Staatsbankrotts ins Auge, um sogleich wieder Entwarnung zu geben: »Die Landwirtschaft und der Bergbau gleichen mit ihren US-Dollar-Einnahmen aus den Exporten die Leistungsbilanz weitgehend aus und sorgen für volle Devisenkassen.«¹
Industrie fördern
Hohe Zinsen
Mehr nationales Wachstum
Inflationsprobleme
Politischer Grundsatzstreit
Ersichtlich lebt dieser Streit, in dem jede Seite der anderen vorwirft, mit ihrem »Konzept« den ökonomischen Niedergang des Landes herbeizuführen, davon, dass die streitenden Parteien jeweils eine Seite des Widerspruchs, in dem sich der brasilianische Kapitalismus bewegt, zur Leitlinie der Politik machen.
Wer sich in dieser Kontroverse mit seinen Argumenten jeweils durchsetzt, wird auch in Brasilien politisch durch Wahlen bzw. Parlamentsmehrheiten entschieden. Wann und warum die jeweiligen Argumente und Versprechungen für das eine oder das andere Programm Anklang finden, das hängt allerdings wesentlich ab vom Verlauf der Weltmarktkonjunkturen, über die Brasilien nicht Regie führt und die praktisch über die Mittel und Drangsale entscheiden, an denen sich Brasiliens politische Führung jeweils abarbeitet.
Der Boom und die Krise, die das Land in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt hat, sind Dokumente dieser Subsumtion des Schwellenlands Brasilien unter die Konjunkturen des Weltmarkts und des globalen Finanzkapitals als dessen entscheidendem ökonomischen Subjekt.
Aus: junge Welt – Ausgabe vom 13.12.2024 / Seite 12 / Thema: Brasilien
https://www.jungewelt.de/artikel/489832.brasilien-unlsbarer-widerspruch.html