1.
Die Psychologie ist bekannt für die
recht weit gespannte Bandbreite ihrer Themen. Ob Arbeit oder Liebe,
Christentum oder Selbstmord, Schule oder Krieg – bei all diesen
Gegenständen weiß sie sich zuständig für die Erklärung der Rolle,
welche die Subjekte dabei spielen. Und es ist ja auch so, daß Subjekt
all dieser Aktivitäten, denen sich psychologische Theorien widmen,
zweifelsohne der Mensch ist: ohne Menschen keine Arbeit, keine
Religion, kein Krieg, kein gar nichts.
Dagegen spricht: Es tut einer Erklärung gar nicht
gut, diese unbestreitbare, aber auch wenig erhellende Tatsache dafür
herzu-nehmen, sein Augenmerk weg von dem, was die Menschen da tun,
fortan darauf zu richten, daß Menschen ‚es’ tun. Aus der negativen
Bestimmung, „ohne Menschen kein...“ folgt nämlich keineswegs zwingend
der positive Schluß, den die Psychologie für sich gezogen hat: ...
dann müsse der Schlüssel für Arbeit, Liebesleben, Religion und Krieg
im Inneren des Menschen liegen!
Wer diesen Schluß dennoch für naheliegend hält,
interessiert sich dann logischerweise gar nicht mehr für den Inhalt
der subjektiven Leistun-gen, also für die Frage, wie die Leute denn
eigentlich Subjekt der verschiedenen Handlungen sind, an denen sie
sicherlich irgendwie beteiligt sind – sondern hat sich damit den
Forschungsauftrag erteilt, im Menschen nach etwas zu suchen, das sein
Verhalten hervorbringt, seine subjektiven Leistungen aus etwas zu
erklären, das hinter ihnen steckt.
Mit dieser kleinen, aber entscheidenden
Verschiebung des Blickwinkels ist der Grundstock für die
Eigentümlichkeit psychologischer Erklärungen gelegt.
2.
Die Psychologie geht bei ihren Untersuchungen davon aus, daß der
Schlüssel menschlichen Verhaltens in der Innenwelt des Individuums zu
suchen sei. Die Leistungen menschlichen Willens und Bewußtseins
gelten ihr dabei – wie sie es manchmal explizit betont – als bloße
„Oberfläche“, an der stets noch gekratzt werden muß, um auf die
„dahinterliegenden“ verborgenen Vorgänge zu stoßen. Und Belege dafür,
daß es sich bei diesen subjektiven Leistungen nur um die Ebene
„beobachtbaren Bewußtseins“ handelt, dem so ohne weiteres gar nicht
zu trauen ist, kennt sie auch: Erstens liegt die menschliche Seele
bekanntlich nicht „wie ein offenes Buch“ vor uns, von dem wir nur
noch ablesen müßten; zweitens treiben die Menschen in der Tat jede
Menge widersprüchlich bis unsinnig anmutende Dinge und haben,
drittens, häufig genug ein falsches, verschwommenes oder gar kein
Bewußtsein von ihren Handlungen und Gefühlen.
Dagegen spricht: Aus einer
Erklärungsbedürftigkeit dessen, was Leute tun und sich über Gott und
die Welt denken, folgt keineswegs zwingend der Schluß, den die
Psychologie daraus gezogen haben will: ...“dann“ seien Wille
und Bewußtsein jawohl als eine Sphäre trüge-rischerer Einbildungen zu
betrachten, denen beim besten Willen nicht zu entnehmen ist, was
jemanden wozu bewegt.
Mit dieser Sichtweise (v)erklärt man das
menschliche Handeln erst zu diesem ganz prinzipiellen Rätsel,
dessen Lösung partout „hinter“, sprich: jenseits des
Bewußtseins gesucht und gefunden werden muß, das jemand davon hat.
Und was das Un-, Unter- oder falsche Bewußtsein
angeht: Noch nicht einmal die Tatsache, daß die Leute allen möglichen
Unsinn (mit)machen, beweist, daß nur ihre Innenwelt dafür
verantwortlich sein kann. Daß sich jemand womöglich ein verkehrtes
Urteil gebildet hat, zieht die Psychologie erst gar nicht in
Betracht, weil ihr der Inhalt eines Gedankens sowieso keine Prüfung
wert ist – für sich nimmt sie ihn weder wahr noch ernst, er
zählt ausschließlich als Abbild seelischer Prozesse.
Ausgestattet mit dieser sehr methodischen Gewißheit
– „da muß doch was dahinterstecken!“ – steht der psychologischen
Entdeckungsreise ins Ich nichts mehr im Wege.
3.
Wenn der Mensch zu allen möglichen Aktivitäten imstande ist, dann
möchte die Psychologie klären, was ihn dazu befähigt: dann gilt es,
die Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens und darin dessen
Ursache zu ergründen. Das Auffinden von „Verhaltensdispositionen“,
von typi-schen, immer wiederkehrenden Handlungsweisen soll dazu
beitragen, sowohl die Innenwelt des Individuums als auch seine
Außenwelt besser zu verstehen.
Dagegen spricht:
1. Eine bestimmte Voraussetzung, ohne die
ein bestimmtes Tun nicht geht, ist noch lange nicht dasselbe wie der
Grund, warum jemand das tut. Daß der Mensch z.B. über geistige
Fähigkeiten verfügt, erklärt keineswegs, warum er ein paar Jahre in
die Schule geht und dort benotet wird.
2. Es ist schon ein bißchen dogmatisch, es mit
dieser Verwechslung von Fähigkeit zu und dem Grund einer Handlung von
vornherein auszuschließen, daß das, was einer treibt, von so etwas
wie Zwecken abhängen könnte, die er sich setzen mag oder denen
er gehorchen muß. Was immer einer Bestimmtes tut, will, denkt,
fühlt – die Psychologie nimmt es gleich zur Kenntnis als mehr oder
weniger beliebigen Ausdruck jener in ihm steckenden Potenzen, die sie
vorher schon als treibende Kraft menschlichen Verhaltens unterstellt
hatte.
3. Der Mensch ist damit theoretisch verdoppelt in
das, was er tun will, und das, wodurch er dazu bewegt wird,
‚es’ zu tun. Ob dafür nun sein Triebleben (nach Freud und Co) eine
black box (Behaviorismus, Skinner), eine angeborene Begabung oder ein
anerzogenes Motiv (sog. Gen-Umwelt-Kontroverse) verantwortlich
gemacht wird, ist ziemlich egal – jedesmal soll es von einer dieser
inneren Kräfte und Säfte abhängen, wie er sich verhält und verhalten
wird. Das Verhalten ist abhängige Variable von inneren und
äußeren Faktoren, welche bewirken, was wir tun und was nicht.
Das ist der Determinismus der Psychologie: Wenn einer so oder
so handelt, dann wird das wohl seine innere Notwendigkeit
haben – er ist so oder so (gebaut) und kann darum wohl auch
nicht anders.
4. Als Erklärung ist die Benennung bestimmter
Dispositionen, Anlagen, Kognitionsmuster etc. als das Wesensmerkmal
bestimmter beobacht-barer Phänomene schließlich höchst zweifelhaft.
So ist z.B. mit dem Befund „Krieg ist eine Form der
Aggression“ ausgerechnet das allerunspezifischste Moment an ihm
festgehalten. Einer Bestimmung seiner Gründe, seiner Subjekte, seiner
Objekte kommt man so garantiert nicht näher, im Gegenteil: jetzt ist
diese Staats-aktion ja erst so richtig verwechselbar geworden
mit allen möglichen anderen „Schädigungen von Individuen“! Das
Angebot der Psychologie besteht also in einem höchst zirkulären
Verfahren, das vorwärts wie rückwärts beliebige Deutungskraft
besitzt. Man muß nur jene abstrakte Gemeinsamkeit, die vorher in alle
möglichen Arten von Gewalt (..Macht, Konkurrenz etc. alles
austauschbar und offenbar auch dasselbe!) hineingelesen wurde,
hinterher wieder herauslesen: und zwar einmal als deren
Wesensmerkmal, zum anderen als deren Motor. So ist die
treibende Kraft für „aggressives Verhalten“ glasklar: die
„Aggressi-vität“, die in einem Menschen steckt. Oder sie ist
umgekehrt als bloßer „Reflex“ auf äußere Umstände zu deuten,
was seinerseits wiederum die spannende Frage nach einer Disposition
aufwirft, auf diese Umstände „entsprechend“ zu reagieren.
Damit erzeugt diese Sorte Erklärung gerade in ihrer
Begriffslosigkeit ein tiefes Verständnis für alle großen und kleinen
Ereignisse des Lebens, vom Krieg über den Berufserfolg bis zum
Ehekrach: schuld ist immer die Persönlichkeit des Menschen.
4. Da
alles, was aus einem Menschen wird, von der Beschaffenheit seines
Innenlebens abhängt, offeriert die Psychologie eine Diagnostik der
Persönlichkeit. Sie erforscht Eigenschaften, Fähigkeiten, Begabungen,
deren individuelle Ausprägung über Chancen und Perspektiven
entscheide, die einer im Berufs- und/oder Privatleben hat.
Intelligenz- und Persönlichkeitstests setzen diese Annahme in die
Praxis um und sollen Erkenntnisse vermitteln über die Chancen, die
der einzelne aufgrund seiner Möglichkeiten hat.
Dagegen spricht: Seit wann richten sich die
Chancen, die einem in dieser Gesellschaft geboten werden, „etwas zu
werden“, eigentlich danach, was die Leute gerade für welche sind und
was sie so können? Umgekehrt ist es doch: Die Leute haben sich danach
zu richten, welche Fähigkeiten überhaupt verlangt
werden. Die müssen sie aufweisen bzw. erlernen, um an bestimmte
Positionen herankommen zu können – und das heißt nun einmal
auch: Es steht allemal fest, daß es eine Hierarchie der Berufe und
ihrer Dotierung gibt. Ebenfalls steht damit von vornherein – bevor
sich irgendwer die „Fähigkeiten“ der Leute anzugucken bräuchte –
fest, daß es immer Gewinner und Verlierer gibt, weil die Menschen
eben auf diese Hierarchie verteilt werden sollen. Und nur, weil als
einziges noch nicht feststeht, wer oben oder unten
landet, der Spruch von seinem Glück, an dem man unverdrossen
herumhämmern soll, auch schon wahr sein?! Aus der eher banalen
Feststellung, daß ein jeder daran gemessen wird, was er in
dieser Konkurrenz um diese Positionen bringt und es dabei auf seine
Leistungen ankommt, folgt schließlich noch lange nicht, dann
entscheide die persönliche Leistung auch darüber, was aus einem
wird.
Es ist eben doch bloß die Ideologie zu dieser
Konkurrenz, die leute hätten den Erfolg in ihrer Hand und müßten
darum nur kräftig an ihren „Fähigkeiten“ feilen; das ist zwar nicht
wahr, aber nützlich – zur Rechtfertigung von Erfolg und
Niederlage nämlich.
Dem modernen Glaubenssatz, von den Fähigkeiten des
einzelnen, „seine Chancen zu nutzen“, hinge ab, was er im Leben
(nicht nur im Beruf) erreicht, gibt die Psychologie demnach a) sehr
recht, um ihn b) in eine Methode wissenschaftlicher Handlesekunst zu
überhöhen: „Zeige mir Deine Eigenschaften und ich sage Dir, was aus
Dir wird und werden mußte!“ So wird von einem Erfolg locker auf den
„Erfolgs-menschen“, den „Siegertypen“ geschlossen, genauso wie
umgekehrt ein Scheitern den „Versager“, den „Looser“ verrät (meist
nicht ohne ihm zu attestieren, seine Fähigkeiten lägen eben auf einem
anderen Gebiet) – und als Grund dafür wird ebenso locker eine
„individuell ausgeprägte Erfolgstüchtigkeit“ angegeben. Mit
diesem passenden Sprachdenkmal für die widersprüchliche Vorstellung
einer ‚Disposition’, eines Vermögens, das den (Miß-)Erfolg der
Anstrengung der Leute in allen Sphären des Lebens, in denen sie sich
betätigen wollen/müssen (voraus)entscheide, also ‚irgendwie’
determiniere, kennzeichnet die Psychologie sehr treffend den ihr
eigenen Persönlichkeitsrassismus.
5.
Das beliebteste Angebot der Psychologie besteht
schließlich darin, die Leute beim Umgang mit sich selbst zu beraten
und ihnen zu helfen, wenn sie dabei in Schwierigkeiten geraten.
Dagegen spricht: Fragt sich bloß, wobei
ihnen da geholfen wird. Es könnte einem nämlich schon auffallen, daß
die Menschenfreundlichkeit dieser Betreuungsangebote praktizierter
Psychologie sich durch die Bank aus demselben Vorurteil speist, das
schon ihre Diagnosen auszeichnete: Wenn irgendwer oder irgendwas
scheitert, dann bist Du das und es liegt an Dir – und dabei
will ich Dir helfen! Diese Diagnose steht schon fest, bevor der
Klient die Praxis betreten hat, denn der Psychologe stellt sie
immer. Und das heißt jawohl, daß er eine Hilfe in Aussicht stellt
gegen ein „Scheitern“, ganz jenseits einer Prüfung dessen, was da
scheitern mag und warum.
Ob jemand entlassen wurde, im Knast sitzt oder
der/die Liebste weggelaufen ist: Ein Therapeut betrachtet all diese
Vorkommnisse von vornherein als Gegebenheiten, mit denen seine
Kundschaft zurecht-kommen können muß. Das einzige, was ihn an
seinen „Fällen“ interes-siert, ist, daß sie sich gefälligst mit
sich selbst zu beschäftigen haben. Ob ein spezieller „Fall“ nun
Opfer eines feindlichen Interesses geworden ist, vielleicht einen
Fehler bei der Verfolgung eines eigenen Interesses gemacht hat, sich
an moralischen Maßstäben blamiert, die in dieser Gesellschaft gelten,
oder was auch immer – das kann und will der Psychologe ausdrücklich
nicht beurteilen, geschweige denn kritisieren. Von ihm betreute
Menschen sollen sich ausschließlich der Frage zuwenden, ob ihre
Einstellung zu den Problemen stimmt, die sie haben – und ein anderes
„Verständnis“ haben Klienten offensichtlich auch nicht erwartet.
Und wann „stimmt“ die Einstellung? Wenn die Leute
durch einen Vorfall, der sie schädigt, ihnen Ärger oder
Unzufriedenheit bereitet, nicht aus der Bahn geworfen werden! Eine
psychologische Beratung verspricht dem Hilfesuchenden also nie, ihm
etwa dabei behilflich sein zu wollen oder zu können, den Anlaß bzw.
den Grund eines Problems zu beseiti-gen, sondern immer
nur, sich anders zu ihm zu stellen zu können. Jedesmal wird also zu
einem durch und durch instrumentellen Gebrauch des Verstandes
geraten: Betrachte die Angelegenheit einfach so, daß sie Dich
nicht stört! Auf gut deutsch: Don’t worry, be happy. Wenn Du in der
rauhen Welt auf die Nase gefallen bist – wenigstens Dein
Selbstbewußtsein darfst Du Dir nicht beschädigen lassen, denn das
ist die Hauptsache; wenn Du in der freien Wildbahn der Konkurrenz
keinen Erfolg hast – besinne Dich darauf, daß Du eben andere, höhere
Qualitäten hast...
Die Tipps, die man bei Psychologen bekommt, gehen
also allesamt so: da ein Schuß mehr „Selbstbewußtsein und
Selbstwertgefühl“, dort eine Prise mehr „Motivation“, hier ein
Quentchen weniger „äußerliches Erfolgsdenken“... – in jeder
Lebenslage die passende, weil fürs Gemüt funktionelle
Einstellung, dann ist der Mensch „psychisch gesund“ und der
Seelendoktor freut sich. Den Leuten mehr Selbstvertrauen und so Zeug
einzuflößen – man mag nur gar nicht daran denken, wobei –: das ist
der nicht zu leugnende Erfolg psychologischer Hilfe.
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